Pickende Hühner und versunkene Kathedralen – Sommermusik für eine trunkene Fahrt

Die trunkene FahrtLese- und Hörstoff für die Sommerferien: Ein einbeiniger Chauffeur. Ein heruntergekommener Musikkritiker. Ein genialer, cholerischer Pianist. Und ein Jurastudent, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Diese vier Männer quetschen sich in einen engen Fiat Panda und brausen einen Tag lang gemeingefährlich durch die Alpen, palavern über Gott und die Welt und immer wieder über Musik, bechern dabei jede Menge Wein und Tiroler Schnäpse. So fahren sie dem Untergang der Sonne entgegen – und vielleicht auch ihrem eigenen.

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Intermezzo: Die trunkene Fahrt

Die trunkene FahrtHinweis in eigener Sache: Der Konzertgänger hat einen Roman geschrieben, der heute erscheint.

DIE TRUNKENE FAHRT ist ein Capriccio über die Gebirgstour von vier Männern (ein verlotterter Musikkritiker, ein jähzorniger Pianist, ein trotteliger Jurastudent, ein großspuriger Lehrer), das mit einem Crescendo dal niente beginnt, einen schönen Sommertag lang dauert und mit einem Diminuendo al niente endet. Es handelt sowohl von den letzten Dingen als auch vom letzten Krempel. Denn (Achtung, Merkspruch) das Leben, es gleicht einer trunkenen Fahrt. Es lässt sich auf ihr Unendlichkeit schlürfen, aber manchmal wird es auch ziemlich eng, vor allem, wenn man zu viert in einem Fiat Panda sitzt.

DIE TRUNKENE FAHRT wurde von Kritikern sowohl gelobt (SPIEGEL) als auch verrissen (Saarbrücker Zeitung).

Erhältlich in jeder Buchhandlung, offline wie online; natürlich auch als E-Book.

Weitere Informationen beim Rowohlt-Verlag

11.8.2016 – Kleinfingersingend: Grigory Sokolov in Bozen

Am Konzertgänger ist ein gutbetuchter Rentier verlorengegangen: Er wüsste sich Übleres vorzustellen als den lieben Sommer lang den Musikern seines Herzens nachzureisen. Aber manchmal tun sich auch im turbulenten Familienurlaub Gelegenheiten auf. Zum einen, weil im schönen Pustertal bemerkenswert viele schöne Konzerte stattfinden, zum anderen, weil beim Festival Bozen neben wunderbaren jungen Ensembles wie dem Orchester der Gustav Mahler Akademie oder dem Theresia Youth Baroque Orchestra auch Musiker von Weltrang wie Jordi Savall, Christian Gerhaher und Grigory Sokolov sich die Klinke in die Hand geben.

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12.10.2015 – Schottisch, norwegisch, böhmisch: Südtiroler Berlin-Momente im Konzerthaus

Es kann nie genug Kammermusik geben. Trotzdem ist es verwegen, mit einer ambitionierten Kammermusikreihe von Südtirol aus nicht ins darbende Wanne-Eickel oder Reggio di Calabria zu ziehen, sondern nach Berlin. Andererseits kann man sich nur freuen über Verrückte, die auf eigene Faust großartige Musiker auf welche Bühne auch immer bringen.

Am Morgen noch auf der Seiser Alm auf über 2000 Meter Höhe, am Abend im Konzerthaus auf 36 Meter Höhe plus X (der Kleine Saal liegt immerhin im dritten Stock) – ein tiefer Fall, den die jungen Musiker aber dem Ohrenschein nach mühelos verkraftet haben. Der ladinische Bariton Andrè (sic) Schuen ist bestens bei Stimme, als er mit viel romantisch-nächtlichem Schmelz Lieder von Franz Schubert singt, darunter Der Wanderer und Die Sterne. Begleitet wird er, in einer von Daniel Heide erstellten Fassung, von einem Streichquartett. Dem einfachen Klaviersatz tut das nicht immer gut, mitunter ist etwas Fin de siècle-Kitsch, ein Hauch Verklärte Nacht zu spüren; und die vier Musiker wirken doch etwas unterfordert mit dem vielen Unisono.

Der Klaviertrio-Part in Ludwig van Beethovens eingängigen Schottischen Liedern op. 108 ist instrumental befriedigender, auch wenn diese abgrundfreien Lieder natürlich nicht an Schubert herankommen. Come Fill, Fill, my Good Fellow! Sehr interessant, was sich bei Beethoven zwischen Hausnummern wie opus 106 und opus 109 so versteckt… Schuen singt fünf dieser Lieder, in Faithfu‘ Johnie sogar mit hörenswertem Falsett. Die Geigerin Franziska Hölscher begleitet die Ethno-Gassenhauer mit schönem schlanken Ton; manchmal könnte sie etwas enthemmter drauflosfiedeln. Vielleicht nach einem Schluck Single Malt. Wahlweise Südtiroler Wein! Der wäre ohnehin eine Bereicherung für das Konzerthaus, wo der Wein nur halb so viel kostet wie in der Philharmonie, aber eben auch so schmeckt. Dafür gibt es hier Bier vom Fass. Die Gedanken schweifen ab, stellt der Konzertgänger erschrocken fest, während auf die schottischen noch zwei Irische Lieder aus Beethovens Feder folgen, die ebenfalls Gläserklappern und Fußstampfen gut vertragen würden.

Bloß gut, dass Kirill Troussov und Guy Ben-Ziony nicht am Whisky genippt haben: Bei der Passacaglia für Violine und Bratsche über ein Thema von Händel des norwegischen Komponisten (und Schwiegerneffen von Grieg) Johan Halvorsen würden sie einen hohen Preis dafür zahlen. So aber meistern sie jedweden virtuosen Firlefanz dieser schönen Zirkusnummer, wuchtige Doppelgriffe, rasante Saltellando-Läufe, zauberhaftes Flageolettwispern.

Featured imageExistenzieller geht es in Bedřich Smetanas frühem Klaviertrio g-moll zu, das Troussov mit dem Cellisten Gabriel Schwabe und dem Pianisten Benjamin Moser spielt. Seiner im Alter von vier Jahren gestorbenen Tochter gewidmet, verfährt Smetana nach dem Motto: viele Töne, viel Gefühl; und obwohl vielleicht kompositorisch kein Meisterwerk, ist es ein rasend bewegtes und bewegendes Stück, in dem es hörbar um alles geht. Troussov klingt wie ein wiedergeborener Oistrach, auch Schwabe und Moser spielen um ihr Leben. Nach dem aufregenden zweiten Satz, einer Art Schmerzensscherzo, folgt als Finale ein in seiner Glasklarheit gespenstisches Presto: Kammermusik, die die Welt bedeutet. Von der Seiser Alm nach Berlin gekommen.

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Reich: Sommermusik von Veracini bis Cranberries in Südtirol

Auch in Südtirol wird der Konzertgänger nicht ausschließlich zum Berggänger. Obwohl hier, wie sein eingeborener Schwiegervater bescheiden zu sagen pflegt, nicht gerade die Achse aus dem Globus kommt, muss der hochkulturbeflissene Urlauber nicht darben. Im Gegenteil: Kurz vor seiner Heimkehr nach Berlin, wo das Musikfest auf ihn wartet, blickt der Konzertgänger nicht nur auf schwindelerregende Wanderungen, steigungsreiche Radtouren und eiskalte Weihernachmittage zurück, sondern auch auf einen reichen Musiksommer.

Der Brunecker Verein Cordia organisiert nicht nur jedes Jahr einen Sommerkurs mit dem für Berliner Ohren glückverheißenden Namen Akademie für Alte Musik, zu dem sich Musiker aus aller Welt treffen, um sich in historischer Aufführungspraxis fortzubilden und abschließend ein gemeinsames Konzert zu geben: in diesem Jahr ein famoses Beethoven-Programm unter der Leitung von Jos van Immerseel (2.8. in Toblach).

Am 4.8. trat das Ensemble Cordia selbst auf, in der urigen Rainkirche am Schlosshang von Bruneck mit einem ausgefallenen Barockprogramm: zwei spritzige Ouvertüren von Francesco Maria Veracini und zwei aufregende, völlig unhändelhafte Symphonien von William Boyce – so lebendig und kraftvoll musiziert, dass es den eigentlichen Höhepunkt des Programms fast in den Schatten stellte, Händels Silete Venti. Der rauschende Auftritt der Sopranistin Roberta Invernizzi, die dem wütenden Wehen des Orchesters energisch Einhalt gebot, verfehlte trotzdem nicht ihre Wirkung, zumal auf die schwer beeindruckte Tochter des Konzertgängers.

Fast noch mehr nach ihrem Geschmack war die Matinée der Schwestern Reinhilde und Tamara Gamper, die als Wonderful Strings (Zither und Violine) am 16.8. in der Alten Turnhalle Bruneck ein buntes Programm von Renaissance-Musik über Südtiroler und irische Folklore bis zu Cranberries und Police spielten: Die Gamper-Schwestern sind hervorragende Instrumentalistinnen, die auch sehr gut singen können und, wie nicht verschwiegen werden darf, fantastisch aussehen. Unterhaltung im besten Sinne, an die der Konzertgänger wehmütig zurückdachte, als wenig später in seinem Dorf verschwitztes Herrengebumper der Freddy-Pfister-Band die Bergruhe entweihte.

Featured imageDas Theresia Youth Baroque Orchestra, das junge Musiker aus aller Welt im Zeichen des Pirols in Rovereto versammelt und mehrmals im Jahr durch Italien tourt, machte am 21.8. im Grand Hotel Toblach halt, einem Lieblingsort des Konzertgängers in Südtirol. Das Programm unter Leitung von Chiara Banchini beschwor nicht den Geist Gustav Mahlers, sondern den alles andere als wehmütigen Spirit von Carl Philipp Emanuel Bach und Luigi Boccherini. Ausgepowert von der langen Anfahrt mit dem Fahrrad, war im Konzert an Schlaf nicht zu denken! Zumal historische Aufführungen wie für Kinder gemacht sind: Die Instrumente klingen interessanter, die Klaviere haben geheimnisvolle Kniehebel, und kein Konzert vergeht, ohne dass einem Geiger mit lautem Knall die Saite reißt.

In CPE Bachs Concerto per clavicembalo e fortepiano Es-Dur (1788) kommt sogar Fin de siècle-Stimmung auf, wenn auch nicht im mahlerschen Sinn: Das Aufeinandertreffen von Cembalo (Olga Pashchenko) und Hammerklavier (Assen Boyadjiev) ist ja die Begegnung eines untergehenden Instruments mit seinem Nachfolger, der seinen Siegeszug erst antritt – eine sehr heitere Schwermut. Boccherinis 27. Sinfonie D-Dur (1789) ist dagegen ein beglückendes, ausgewogenes Werk, das sich vor Haydn nicht zu verstecken braucht. Besonders zu Herzen gehend das Andante; im Menuett brilliert die junge erste Geigerin. Keine Ahnung, warum man in Deutschland noch immer recht ignorant gegenüber Boccherini ist; dass das nicht immer so war, beweist die Tatsache, dass Friedrich Wilhelm II. diese Sinfonie in Auftrag gab.

2. August 2015 – Revolutionär-restaurativ: Beethoven in Toblach

Die Pampa ist auch nicht mehr, was sie… ohnehin nie war, nämlich kulturlos. Aber dass man in der Einsamkeit der Berge freitags ein gutes Streichquartett, samstags ein beeindruckendes Jugendorchester, sonntags echte Volksmusik ohne Kastelruther-Spatzen-Brechfaktor hören kann, muss man Südtirol erstmal nachmachen. Die famose Broschüre Musiksommer Pustertal verzeichnet für die Zeit von Juni bis Oktober 2015 etwa 100 Konzerte; sie ist das Vademecum des Konzertgängers, wenn er den Sommer in den Bergen verbringt, im Kreise der Familie seiner Frau.

Featured imageAm Dienstag gibt es im mysteriösen Grand Hotel Toblach, wo der Geist von Gustav Mahler durch die Flure wandelt, ein reines Beethoven-Programm, und zwar eins der anspruchsvollen Art: Neben der Eroica erklingt eine echte Rarität, die dubiose Kantate Der glorreiche Augenblick, historisch musiziert von dem Orchester der Akademie für Alte Musik Bruneck, einem seit 15 Jahren bestehenden Fortbildungskurs für hochbegabte Musiker von Bozen bis Argentinien, dieses Jahr unter der Leitung des Belgiers Jos van Immerseel.

Der Sohn des Konzertgängers, der nicht nur Dreitausender besteigen, sondern auch die Gipfel der Hochkultur kennenlernen soll, entdeckt schon vor dem Konzert bekannte Gesichter: Einige Kinder aus seinem Dorf werden gleich mitsingen, denn die Kantate verlangt auch Kinderstimmen, die Unschuld als Chor.

Aber zunächst schweigen die Unschuldsengel und dürfen einen Meilenstein der Musikgeschichte kennenlernen, die 3. Symphonie Es-Dur op. 55 ‚Eroica‘. Es ist das Gegenteil einer musealen Aufführung, ihr ungehobelter Klang schneidet ins Fleisch, die berühmten Anfangsakkorde erinnern den Sohn des Konzertgängers an zwei Blitze, und bei jedem Schlag, der noch folgt, bei jeder Dissonanz begreift man unmittelbar, dass den haydngewöhnten Wienern 1804 die Haare zu Berge stehen mussten bei diesem pathetischen Ausdrucks-Ungeheuer von Symphonie. Den Trauermarsch hat der Konzertgänger selten so ergreifend gefunden.

Die Kantate ‚Der glorreiche Augenblick‘ für Soli, Chor und Orchester op. 136 ist in ganz anderem Sinn schwer zu verdauen. Beethoven schrieb sie 1814 aus Anlass des Wiener Kongresses für die anwesenden Fürsten, auf den abscheulichen Jubel-Text eines Tirolers namens Aloys Weissenbach, in dem die Stadt Wien, die Einheit Europas und die Segenshände der Herrscher Österreichs, Preußens, Russlands gepriesen werden: und die alten Zeiten werden / endlich wieder sein auf Erden. Eine Europa-Hymne der anderen Art! Wenn man die beiden Werke zusammen spielt, wirkt die Kantate wie ein deprimierender Widerruf der revolutionären Eroica.

Dabei klingt sie sehr beeindruckend mit ihrem Chor aus Trient und Bruneck, ergänzt durch Kinderstimmen aus den Musikschulen Bruneck und Klausen. Es gibt sehr schöne Momente, etwa wenn die erste Geige den Sopran der Vienna (Clara Sattler) umschmeichelt. Andrea Brown schenkt als Prophetin mit ihrem überkandidelten Pathos der Aufführung wohltuende Ironie. Auch Vincent Lesage (Genius) und Thomas Bauer (Führer des Volks) sind hochkarätige Solisten.

Trotz der erstklassigen Aufführung bleibt die Kantate ein zusammengeschustertes Musikstück ohne inneren Zusammenhalt, eine Randnotiz der Musikgeschichte. Trotzdem ein Gewinn, diesen Schinken kennengelernt zu haben, weil es das klischeehaft glatte Beethovenbild aufrauht.

Und man lernt etwas über Nachhaltigkeit: Während die Eroica trotz ihrer verstörenden Wirkung bald als Meisterwerk erkannt wurde, stieß die Kantate trotz begeisterter Fürsten schnell auf Desinteresse, schon die dritte Aufführung musste mangels Nachfrage abgeblasen werden. So gerecht kann die Musikgeschichte sein.

Auch der Sohn des Konzertgängers sagt, die Symphonie habe ihm ehrlich gesagt besser gefallen.

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