Es kann nie genug Kammermusik geben. Trotzdem ist es verwegen, mit einer ambitionierten Kammermusikreihe von Südtirol aus nicht ins darbende Wanne-Eickel oder Reggio di Calabria zu ziehen, sondern nach Berlin. Andererseits kann man sich nur freuen über Verrückte, die auf eigene Faust großartige Musiker auf welche Bühne auch immer bringen.
Am Morgen noch auf der Seiser Alm auf über 2000 Meter Höhe, am Abend im Konzerthaus auf 36 Meter Höhe plus X (der Kleine Saal liegt immerhin im dritten Stock) – ein tiefer Fall, den die jungen Musiker aber dem Ohrenschein nach mühelos verkraftet haben. Der ladinische Bariton Andrè (sic) Schuen ist bestens bei Stimme, als er mit viel romantisch-nächtlichem Schmelz Lieder von Franz Schubert singt, darunter Der Wanderer und Die Sterne. Begleitet wird er, in einer von Daniel Heide erstellten Fassung, von einem Streichquartett. Dem einfachen Klaviersatz tut das nicht immer gut, mitunter ist etwas Fin de siècle-Kitsch, ein Hauch Verklärte Nacht zu spüren; und die vier Musiker wirken doch etwas unterfordert mit dem vielen Unisono.
Der Klaviertrio-Part in Ludwig van Beethovens eingängigen Schottischen Liedern op. 108 ist instrumental befriedigender, auch wenn diese abgrundfreien Lieder natürlich nicht an Schubert herankommen. Come Fill, Fill, my Good Fellow! Sehr interessant, was sich bei Beethoven zwischen Hausnummern wie opus 106 und opus 109 so versteckt… Schuen singt fünf dieser Lieder, in Faithfu‘ Johnie sogar mit hörenswertem Falsett. Die Geigerin Franziska Hölscher begleitet die Ethno-Gassenhauer mit schönem schlanken Ton; manchmal könnte sie etwas enthemmter drauflosfiedeln. Vielleicht nach einem Schluck Single Malt. Wahlweise Südtiroler Wein! Der wäre ohnehin eine Bereicherung für das Konzerthaus, wo der Wein nur halb so viel kostet wie in der Philharmonie, aber eben auch so schmeckt. Dafür gibt es hier Bier vom Fass. Die Gedanken schweifen ab, stellt der Konzertgänger erschrocken fest, während auf die schottischen noch zwei Irische Lieder aus Beethovens Feder folgen, die ebenfalls Gläserklappern und Fußstampfen gut vertragen würden.
Bloß gut, dass Kirill Troussov und Guy Ben-Ziony nicht am Whisky genippt haben: Bei der Passacaglia für Violine und Bratsche über ein Thema von Händel des norwegischen Komponisten (und Schwiegerneffen von Grieg) Johan Halvorsen würden sie einen hohen Preis dafür zahlen. So aber meistern sie jedweden virtuosen Firlefanz dieser schönen Zirkusnummer, wuchtige Doppelgriffe, rasante Saltellando-Läufe, zauberhaftes Flageolettwispern.
Existenzieller geht es in Bedřich Smetanas frühem Klaviertrio g-moll zu, das Troussov mit dem Cellisten Gabriel Schwabe und dem Pianisten Benjamin Moser spielt. Seiner im Alter von vier Jahren gestorbenen Tochter gewidmet, verfährt Smetana nach dem Motto: viele Töne, viel Gefühl; und obwohl vielleicht kompositorisch kein Meisterwerk, ist es ein rasend bewegtes und bewegendes Stück, in dem es hörbar um alles geht. Troussov klingt wie ein wiedergeborener Oistrach, auch Schwabe und Moser spielen um ihr Leben. Nach dem aufregenden zweiten Satz, einer Art Schmerzensscherzo, folgt als Finale ein in seiner Glasklarheit gespenstisches Presto: Kammermusik, die die Welt bedeutet. Von der Seiser Alm nach Berlin gekommen.
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