Am Konzertgänger ist ein gutbetuchter Rentier verlorengegangen: Er wüsste sich Übleres vorzustellen als den lieben Sommer lang den Musikern seines Herzens nachzureisen. Aber manchmal tun sich auch im turbulenten Familienurlaub Gelegenheiten auf. Zum einen, weil im schönen Pustertal bemerkenswert viele schöne Konzerte stattfinden, zum anderen, weil beim Festival Bozen neben wunderbaren jungen Ensembles wie dem Orchester der Gustav Mahler Akademie oder dem Theresia Youth Baroque Orchestra auch Musiker von Weltrang wie Jordi Savall, Christian Gerhaher und Grigory Sokolov sich die Klinke in die Hand geben.
Seit 2008 gehört Bozen zu Sokolovs alljährlicher Fahrt durch die irdischen Gefilde. Überall, auch vor drei Monaten in Berlin, spielt er das gleiche Programm, und es ist pures Glück, es zweimal hören zu dürfen.
Wieder geht Sokolov die beiden großen Werke des Abends, Robert Schumanns Fantasie C-Dur op.17 und Frédéric Chopins 2. Sonate b-Moll op. 35, äußerst langsam an – man könnte es provozierend nennen, wenn der Begriff bei diesem friedfertigen Klangmagier mit seinem gemütvollen Embonpoint nicht völlig deplatziert wirkte. Trotzdem geraten die Werke nie in Gefahr zu zerfallen. Und Sokolovs technische Brillanz, etwa in den wahnwitzigen Sprüngen im 2. Satz der Fantasie, ist umso beeindruckender. Doch brillant ist manch ein Pianist, wichtiger ist die atemberaubende Plastizität, mit der Sokolov jeden einzelnen Ton buchstäblich modelliert. Hat man das Privileg, wie der Konzertgänger und sein Sohn nur fünf Meter vom Klavier entfernt zu sitzen, kann man Sokolovs rechter Hand bei diesem Wunderwerk genau zusehen: Wie sein kleiner Finger sich regt, strebt, reckt und streckt, dehnt und sehnt, ist Kunstoffenbarung und Naturwunder zugleich – und wird Klang in einem überirdischen Gesang etwa im ersten Satz der Fantasie und in den beiden Nocturnes op. 32. Und natürlich in den verzehrend schönen Binnenteilen des zweiten und dritten Satzes der b-Moll-Sonate.
Dennoch kommt es auch zu eminenten Kraftentladungen, am heftigsten in der Wiederkehr des Trauermarschthemas, das sich über das menschenmöglich Scheinende hinaus immer weiter steigert und den herzzerreißenden Gesang des Mittelteils so gewaltsam hinwegfegt, dass das zerrissene Herz des Hörers es kaum zu ertragen vermag.
Im rituellen dritten Konzertteil die erhofften sechs Zugaben, wie in Berlin Franz Schuberts Moments Musicaux 2 bis 6 und (zwischen den Nummern 5 und 6) Chopins Mazurka op. 30, 2 h-Moll.
Ein gewisses Unbehagen regt sich nur, da die Sokolov-Anhimmelung des Publikums in jene bedenkliche Phase eingetreten zu sein scheint, in welcher der sagenumwobene Status des Pianisten mehr gilt als sein Klavierspiel: So bricht, auch dies wie in Berlin, das Publikum bei der erstbesten Gelegenheit in einen bravoreichen Jubelsturm aus – und zwar zwischen dem ersten und zweiten Satz der Fantasie. Sokolov lässt diesen zur Unzeit auftosenden Beifall wie alles, Huldigungen wie Zudringlichkeiten und Handybimmeln, in stoischer Würde über sich ergehen und… spielt Klavier.
Gewiss auch in einem Jahr.