Erstlich: Michelangelo String Quartet im Boulez-Saal

Pompeii_-_Casa_dei_Vettii_-_PentheusZerreißen müsste der Konzertgänger sich können! An der Komischen Oper feierte eine Mussorgsky-Rarität Premiere, an der Deutschen Oper Götz Friedrichs legendärer Ring Derniere, zehn andere Köstlichkeiten nicht zu vergessen … ach, und im Pierre-Boulez-Saal gibt’s nichts Geringeres als ein Quartettfestival. Nach dem Staatskapellen-Streichquartett (da war der Konzertgänger im Rheingold) und einem Haydn-Marathon des famosen Hagen Quartetts (da war Walküre, seufz) spielt das Michelangelo String Quartet drei grundverschiedene Erstlinge. Beethoven, Bartók, Smetana. Am Abend zwischen Walküre und Siegfried. Weiterlesen

13.2.2016 – Serioso: Vogler-Quartett feat. Taner Akyol

Das Streichquartett ist untoter denn je. Es gibt eine Menge großartiger Nachwuchs-Ensembles; das Publikum wird nicht kleiner, höchstens feiner; das langjährig eingespielte Mandelring-Quartett zieht Hörer in Scharen mit kompromisslosem Mendelssohn non-stop an (und  beginnt nächste Woche seinen neuen Berlin-Zyklus).

Das seit über 30 Jahren erprobte Vogler-Quartett hat ein treues Publikum, das bei seinen regelmäßigen Auftritten im Konzerthaus den Kleinen (aber feinen) Saal zuverlässig füllt. Die Musiker belohnen es, indem sie die Standardwerke des Repertoires immer wieder mit überraschenden, verblüffenden, auch irritierenden Novitäten kombinieren und interessante Gäste einladen: etwa den Kompon-/Klarinettisten Jörg Widmann oder den Paradiesvogler Moritz Eggert.

Wenn diesmal der 1977 geborene Taner Akyol sich mit seiner Bağlama zum klassischen Streichquartett dazugesellt, gehen in Hatirlamalar (Erinnerungen) türkische Melismatik und die A- und Mikrotonalität der Neuen Musik die organischste Verbindung ein; wunderbar, wie am Schluss die Zupf- und Klopfwellen quer durch die Instrumente laufen. Aber das musikalische Potenzial der Bağlama hat sich bereits bis zu Jugend musiziert herumgesprochen.

Die zweite Akyol-Komposition an diesem Abend ist für Streichquartett pur geschrieben. So leid es einem tut, nicht noch mehr Bağlama zu hören, beweist die Uraufführung von Berkin eindrücklich, dass Akyol viel mehr ist als „nur“ ein Virtuose auf seinem Instrument. Das liegt nicht nur am erschütternden Hintergrund des Stückes, das Akyol dem 15jährigen Berkin Elvan gewidmet hat, der am Rand der Gezi-Proteste durch ein Tränengasgeschoss der türkischen Polizei getötet wurde. In Akyols Berkin spricht unverkennbar das Vokabular der Neuen Musik, aber im Dienst höchster Ausdrucksintensität und mit einem vollen Sound, der im besten Sinn folkloristisch wirkt. Vor dem rasend bewegten Schlussabschnitt, in dem Verzweiflung und Hoffnung aufeinander prallen, gibt es eine lange, in immer höhere Regionen steigende elegische Passage, die fast an Samuel Barbers Adagio for Strings erinnert. Will sagen: Akyol komponiert auf eine Weise, die direkt zum Hörer spricht.

Akyol ist in Berlin u.a. mit seinem gleichnamigen Trio und mit der Kinderoper Ali Baba und die 40 Räuber an der Komischen Oper zu erleben. Ganz nebensächlich hingegen die Tatsache, auf die die Frau des Konzertgängers aufmerksam macht: „Neben diesem feschen Türken seht ihr Deutschen aus wie Kartoffeln.“

Eins wäre aber zu verbessern: Die interessante Einführung, die Tim Vogler gibt und in der Akyol eine Dur-Tonleiter anatolischen nichttemperierten Modellen gegenüberstellt, etwa der Hüseyin-Skala, ist zumal von den hinteren Plätzen akustisch kaum zu verstehen.

Die beiden Streichquartett-Klassiker, die Akyols ausdrucksstarke Musik an diesem Abend sehr durchdacht rahmen, gehören zu den intensivsten Vertretern ihrer Gattung: In Beethovens äußerst verknapptem Streichquartett f-Moll op. 95 (1810), dem Quartetto serioso, prallen schon in den ersten 10 Sekunden die gegensätzlichsten Emotionen aufeinander, stürmische Bewegung einerseits, hoffnungslos sich entgegenwerfende Schönheit andererseits. Genau das richtige Stück also für das Vogler-Quartett, bei dem konzentrierte Expressivität immer über geschmeidigem Wohlklang steht. Der fahle Septakkord zwischen Allegretto und Scherzo verschlägt einem den Atem ebenso wie die ausdrucksstarke Einleitung zum Finale. Schade nur, dass während des Trios eine Dame mit klackernden Absätzen den Saal umrundet – ein akustisches Inferno, wie der Konzertgänger es von zuhause kennt, wenn die Tochter in Mamas guten Stiefeln feine Dame spielt; aber dort stört es nur die Nachbarn, nicht Beethoven. Nicht störend, sondern geradezu bizarr ist die Coda dieses Quartetts: Auch wenn man bei Beethoven nun wirklich manches ad aspera ad astra kennt, klingt dieser jubelnde Dur-Schluss wie angeklebt.

Auch in Bedřich Smetanas 1. Streichquartett e.Moll ‚Aus meinem Leben‘ entsteht die Musik aus kleinen, hochexpressiven Gesten, aber was herauskommt, ist keine aphoristische Verdichtung, sondern epische Breite. Es ist eins der erschütterndsten und unterhaltsamsten Quartette zugleich. In der Polka schrummeln die Voglers mit stoischer Präzision, und dem Konzertgänger ist trotz Fastenzeit, als hätte er schon zehn tschechische Biere intus und es gäbe keine Zeit mehr. Doch im Schlusssatz erklingt unabwendbar die Katastrophe, das viergestrichene Tinnitus-E der ersten Geige; und auf heftigem Tremologrund wirbeln die Erinnerungen an Leben, Lust und Liebe der vorderen Sätze verzweifelt dem Untergang entgegen.

Als Zugabe reißt Erwin Schulhoffs grandiose Tarantella das Publikum von den Sitzen. Am 7. Mai sieht man sich wieder im Kleinen, aber feinen Saal des Konzerthauses.

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12.10.2015 – Schottisch, norwegisch, böhmisch: Südtiroler Berlin-Momente im Konzerthaus

Es kann nie genug Kammermusik geben. Trotzdem ist es verwegen, mit einer ambitionierten Kammermusikreihe von Südtirol aus nicht ins darbende Wanne-Eickel oder Reggio di Calabria zu ziehen, sondern nach Berlin. Andererseits kann man sich nur freuen über Verrückte, die auf eigene Faust großartige Musiker auf welche Bühne auch immer bringen.

Am Morgen noch auf der Seiser Alm auf über 2000 Meter Höhe, am Abend im Konzerthaus auf 36 Meter Höhe plus X (der Kleine Saal liegt immerhin im dritten Stock) – ein tiefer Fall, den die jungen Musiker aber dem Ohrenschein nach mühelos verkraftet haben. Der ladinische Bariton Andrè (sic) Schuen ist bestens bei Stimme, als er mit viel romantisch-nächtlichem Schmelz Lieder von Franz Schubert singt, darunter Der Wanderer und Die Sterne. Begleitet wird er, in einer von Daniel Heide erstellten Fassung, von einem Streichquartett. Dem einfachen Klaviersatz tut das nicht immer gut, mitunter ist etwas Fin de siècle-Kitsch, ein Hauch Verklärte Nacht zu spüren; und die vier Musiker wirken doch etwas unterfordert mit dem vielen Unisono.

Der Klaviertrio-Part in Ludwig van Beethovens eingängigen Schottischen Liedern op. 108 ist instrumental befriedigender, auch wenn diese abgrundfreien Lieder natürlich nicht an Schubert herankommen. Come Fill, Fill, my Good Fellow! Sehr interessant, was sich bei Beethoven zwischen Hausnummern wie opus 106 und opus 109 so versteckt… Schuen singt fünf dieser Lieder, in Faithfu‘ Johnie sogar mit hörenswertem Falsett. Die Geigerin Franziska Hölscher begleitet die Ethno-Gassenhauer mit schönem schlanken Ton; manchmal könnte sie etwas enthemmter drauflosfiedeln. Vielleicht nach einem Schluck Single Malt. Wahlweise Südtiroler Wein! Der wäre ohnehin eine Bereicherung für das Konzerthaus, wo der Wein nur halb so viel kostet wie in der Philharmonie, aber eben auch so schmeckt. Dafür gibt es hier Bier vom Fass. Die Gedanken schweifen ab, stellt der Konzertgänger erschrocken fest, während auf die schottischen noch zwei Irische Lieder aus Beethovens Feder folgen, die ebenfalls Gläserklappern und Fußstampfen gut vertragen würden.

Bloß gut, dass Kirill Troussov und Guy Ben-Ziony nicht am Whisky genippt haben: Bei der Passacaglia für Violine und Bratsche über ein Thema von Händel des norwegischen Komponisten (und Schwiegerneffen von Grieg) Johan Halvorsen würden sie einen hohen Preis dafür zahlen. So aber meistern sie jedweden virtuosen Firlefanz dieser schönen Zirkusnummer, wuchtige Doppelgriffe, rasante Saltellando-Läufe, zauberhaftes Flageolettwispern.

Featured imageExistenzieller geht es in Bedřich Smetanas frühem Klaviertrio g-moll zu, das Troussov mit dem Cellisten Gabriel Schwabe und dem Pianisten Benjamin Moser spielt. Seiner im Alter von vier Jahren gestorbenen Tochter gewidmet, verfährt Smetana nach dem Motto: viele Töne, viel Gefühl; und obwohl vielleicht kompositorisch kein Meisterwerk, ist es ein rasend bewegtes und bewegendes Stück, in dem es hörbar um alles geht. Troussov klingt wie ein wiedergeborener Oistrach, auch Schwabe und Moser spielen um ihr Leben. Nach dem aufregenden zweiten Satz, einer Art Schmerzensscherzo, folgt als Finale ein in seiner Glasklarheit gespenstisches Presto: Kammermusik, die die Welt bedeutet. Von der Seiser Alm nach Berlin gekommen.

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