Die Pampa ist auch nicht mehr, was sie… ohnehin nie war, nämlich kulturlos. Aber dass man in der Einsamkeit der Berge freitags ein gutes Streichquartett, samstags ein beeindruckendes Jugendorchester, sonntags echte Volksmusik ohne Kastelruther-Spatzen-Brechfaktor hören kann, muss man Südtirol erstmal nachmachen. Die famose Broschüre Musiksommer Pustertal verzeichnet für die Zeit von Juni bis Oktober 2015 etwa 100 Konzerte; sie ist das Vademecum des Konzertgängers, wenn er den Sommer in den Bergen verbringt, im Kreise der Familie seiner Frau.
Am Dienstag gibt es im mysteriösen Grand Hotel Toblach, wo der Geist von Gustav Mahler durch die Flure wandelt, ein reines Beethoven-Programm, und zwar eins der anspruchsvollen Art: Neben der Eroica erklingt eine echte Rarität, die dubiose Kantate Der glorreiche Augenblick, historisch musiziert von dem Orchester der Akademie für Alte Musik Bruneck, einem seit 15 Jahren bestehenden Fortbildungskurs für hochbegabte Musiker von Bozen bis Argentinien, dieses Jahr unter der Leitung des Belgiers Jos van Immerseel.
Der Sohn des Konzertgängers, der nicht nur Dreitausender besteigen, sondern auch die Gipfel der Hochkultur kennenlernen soll, entdeckt schon vor dem Konzert bekannte Gesichter: Einige Kinder aus seinem Dorf werden gleich mitsingen, denn die Kantate verlangt auch Kinderstimmen, die Unschuld als Chor.
Aber zunächst schweigen die Unschuldsengel und dürfen einen Meilenstein der Musikgeschichte kennenlernen, die 3. Symphonie Es-Dur op. 55 ‚Eroica‘. Es ist das Gegenteil einer musealen Aufführung, ihr ungehobelter Klang schneidet ins Fleisch, die berühmten Anfangsakkorde erinnern den Sohn des Konzertgängers an zwei Blitze, und bei jedem Schlag, der noch folgt, bei jeder Dissonanz begreift man unmittelbar, dass den haydngewöhnten Wienern 1804 die Haare zu Berge stehen mussten bei diesem pathetischen Ausdrucks-Ungeheuer von Symphonie. Den Trauermarsch hat der Konzertgänger selten so ergreifend gefunden.
Die Kantate ‚Der glorreiche Augenblick‘ für Soli, Chor und Orchester op. 136 ist in ganz anderem Sinn schwer zu verdauen. Beethoven schrieb sie 1814 aus Anlass des Wiener Kongresses für die anwesenden Fürsten, auf den abscheulichen Jubel-Text eines Tirolers namens Aloys Weissenbach, in dem die Stadt Wien, die Einheit Europas und die Segenshände der Herrscher Österreichs, Preußens, Russlands gepriesen werden: und die alten Zeiten werden / endlich wieder sein auf Erden. Eine Europa-Hymne der anderen Art! Wenn man die beiden Werke zusammen spielt, wirkt die Kantate wie ein deprimierender Widerruf der revolutionären Eroica.
Dabei klingt sie sehr beeindruckend mit ihrem Chor aus Trient und Bruneck, ergänzt durch Kinderstimmen aus den Musikschulen Bruneck und Klausen. Es gibt sehr schöne Momente, etwa wenn die erste Geige den Sopran der Vienna (Clara Sattler) umschmeichelt. Andrea Brown schenkt als Prophetin mit ihrem überkandidelten Pathos der Aufführung wohltuende Ironie. Auch Vincent Lesage (Genius) und Thomas Bauer (Führer des Volks) sind hochkarätige Solisten.
Trotz der erstklassigen Aufführung bleibt die Kantate ein zusammengeschustertes Musikstück ohne inneren Zusammenhalt, eine Randnotiz der Musikgeschichte. Trotzdem ein Gewinn, diesen Schinken kennengelernt zu haben, weil es das klischeehaft glatte Beethovenbild aufrauht.
Und man lernt etwas über Nachhaltigkeit: Während die Eroica trotz ihrer verstörenden Wirkung bald als Meisterwerk erkannt wurde, stieß die Kantate trotz begeisterter Fürsten schnell auf Desinteresse, schon die dritte Aufführung musste mangels Nachfrage abgeblasen werden. So gerecht kann die Musikgeschichte sein.
Auch der Sohn des Konzertgängers sagt, die Symphonie habe ihm ehrlich gesagt besser gefallen.