„Verkehrte Welt“, sagt ein Mann vor Matsukaze zu seinem Mann, „lange Schlange vor der Herrentoilette, und das bei einer Tanzveranstaltung…“ In der Tat! Man könnte sich auch geschlechtsneutral darüber wundern, dass die Berliner Staatsoper rappelvoll ist bei der Aufführung eines Nô-Theaterstücks, das ein lebender Komponist vertont hat, der seine Musik so beschreibt: „Der Ton kommt aus dem Schweigen, er lebt, er geht ins Schweigen zurück.“ (Zumal sich bei ähnlich sublimer Musik, Morton Feldmans Neither in der berückenden Inszenierung von Katie Mitchell, die Zuschauer zuletzt per Handschlag begrüßen konnten.)
Der Andrang ist natürlich (leider) nicht Toshio Hosokawa zu verdanken, auch nicht dem brennenden Interesse der Berliner am traditionellen japanischen Theater, nicht einmal der Begeisterung für die Sängerin Barbara Hannigan, sondern dem Label Sasha Waltz. Diese aparte Mischung lockt auch den Konzertgänger an, der nicht gerade zur Zielgruppe der Tanzcard gehört.
Die langen Schlangen vor den Toiletten sind vernünftig und vorausschauend, da die Aufführung mit Meeresrauschen und Wasserplätschern vom Tonband beginnt, das eine durchaus treibende Wirkung hat. Später werden auch Wassereimer auf die Bühne getragen. Und es gibt keine Pause: Den götterdämmerungsgestählten Senioren macht das nichts aus, aber für das jüngere Publikum (zumal wenn es schon vorher Flaschenbier getrunken hat, um nicht wie Opernspießer zu wirken) wird es zum echten Problem. Dabei geht es in Matsukaze nicht ums Wasser an sich, sondern um das Salz darin: Sinnbild der Welt als Ozean von Tränen, eine Wiederkehr des barocken Depri-Affekts, den Staatskapelle und Freiburger BarockConsort vor einer Woche in einem großartigen Konzert vor allzu leeren Rängen zelebriert haben. Ein pilgernder Mönch trifft die Geister zweier armer Salzbäuerinnen, die einem Geliebten nachtrauern, der wie ein Hosokawa-Ton war: Er kam aus dem Schweigen, lebte bei den Frauen, ging ins Schweigen zurück. Nicht weil er ein Schuft war, sondern weil er unerwartet starb.
Wie Blüten öffnen sich zwischen langen Pausen schöne, oft geisterhafte Klänge, unter denen die europäisch-avantgardistischen vertraut klingen, die japanisch-traditionellen hingegen fremdartig; wer die Differenzierungen dieser Klangsprache nicht kennt, nimmt sie interessiert bis apathisch hin. Manchmal komponiert Hosokawa aber auch ganz naturalistisch: Wenn der Mond aufgeht oder der Tau verdunstet, bewegt die Musik sich nach oben, wenn die Sonne untergeht, nach unten. In dieser Hinsicht (nur in dieser) eher Strauss als Mahler, denkt der Konzertgänger heimlich. Auch die Bewegungen der Tänzer, oft assoziativ und immer schön anzusehen, werden mitunter naturalistisch, in einigen Momenten sogar plakativ: Wenn der Text von der Umklammerung des Menschen durch die Sünde (eine irritierende Vokabel für ein japanisches Theaterstück) spricht, umschlingen die Tänzer einander. Da sind Transzendenz und Anmut futsch.
Trotzdem lässt man sich von Hosokawa und dem Geist des Nô überzeugen: Vergänglichkeit ist schön. Vor allem in so einem Bühnenbild (Pia Maria Shriever und Chiharu Shiota): Unendliche Fäden spinnen sich aus dem Dunkel des Nichts ins Hier und Jetzt. Vom Nachthimmel senkt sich ein Haus, das aus hölzernem Rahmen und unsichtbaren Papierwänden besteht. Der Höhepunkt ist der Auftritt der beiden Schwestern, die hinter einem die gesamte Bühne überspannenden schwarzen Wollnetz langsam ins irdische Elend herabklettern und dabei berückend schön singen, wie japanische Loreleien, die aber nichts Böses wollen, nur trauern, traurig singen: die schwedische Mezzosopranistin Charlotte Hellekant als Murasame, der Herbstregen, und die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan, eine immer wieder beeindruckende Stimmakrobatin, die nie etwas Oberflächliches singt, als Matsukaze, der Wind in den Kiefern. Prima tanzen können sie zudem, diese todtraurigen Geister!