Auch in Südtirol wird der Konzertgänger nicht ausschließlich zum Berggänger. Obwohl hier, wie sein eingeborener Schwiegervater bescheiden zu sagen pflegt, nicht gerade die Achse aus dem Globus kommt, muss der hochkulturbeflissene Urlauber nicht darben. Im Gegenteil: Kurz vor seiner Heimkehr nach Berlin, wo das Musikfest auf ihn wartet, blickt der Konzertgänger nicht nur auf schwindelerregende Wanderungen, steigungsreiche Radtouren und eiskalte Weihernachmittage zurück, sondern auch auf einen reichen Musiksommer.
Der Brunecker Verein Cordia organisiert nicht nur jedes Jahr einen Sommerkurs mit dem für Berliner Ohren glückverheißenden Namen Akademie für Alte Musik, zu dem sich Musiker aus aller Welt treffen, um sich in historischer Aufführungspraxis fortzubilden und abschließend ein gemeinsames Konzert zu geben: in diesem Jahr ein famoses Beethoven-Programm unter der Leitung von Jos van Immerseel (2.8. in Toblach).
Am 4.8. trat das Ensemble Cordia selbst auf, in der urigen Rainkirche am Schlosshang von Bruneck mit einem ausgefallenen Barockprogramm: zwei spritzige Ouvertüren von Francesco Maria Veracini und zwei aufregende, völlig unhändelhafte Symphonien von William Boyce – so lebendig und kraftvoll musiziert, dass es den eigentlichen Höhepunkt des Programms fast in den Schatten stellte, Händels Silete Venti. Der rauschende Auftritt der Sopranistin Roberta Invernizzi, die dem wütenden Wehen des Orchesters energisch Einhalt gebot, verfehlte trotzdem nicht ihre Wirkung, zumal auf die schwer beeindruckte Tochter des Konzertgängers.
Fast noch mehr nach ihrem Geschmack war die Matinée der Schwestern Reinhilde und Tamara Gamper, die als Wonderful Strings (Zither und Violine) am 16.8. in der Alten Turnhalle Bruneck ein buntes Programm von Renaissance-Musik über Südtiroler und irische Folklore bis zu Cranberries und Police spielten: Die Gamper-Schwestern sind hervorragende Instrumentalistinnen, die auch sehr gut singen können und, wie nicht verschwiegen werden darf, fantastisch aussehen. Unterhaltung im besten Sinne, an die der Konzertgänger wehmütig zurückdachte, als wenig später in seinem Dorf verschwitztes Herrengebumper der Freddy-Pfister-Band die Bergruhe entweihte.
Das Theresia Youth Baroque Orchestra, das junge Musiker aus aller Welt im Zeichen des Pirols in Rovereto versammelt und mehrmals im Jahr durch Italien tourt, machte am 21.8. im Grand Hotel Toblach halt, einem Lieblingsort des Konzertgängers in Südtirol. Das Programm unter Leitung von Chiara Banchini beschwor nicht den Geist Gustav Mahlers, sondern den alles andere als wehmütigen Spirit von Carl Philipp Emanuel Bach und Luigi Boccherini. Ausgepowert von der langen Anfahrt mit dem Fahrrad, war im Konzert an Schlaf nicht zu denken! Zumal historische Aufführungen wie für Kinder gemacht sind: Die Instrumente klingen interessanter, die Klaviere haben geheimnisvolle Kniehebel, und kein Konzert vergeht, ohne dass einem Geiger mit lautem Knall die Saite reißt.
In CPE Bachs Concerto per clavicembalo e fortepiano Es-Dur (1788) kommt sogar Fin de siècle-Stimmung auf, wenn auch nicht im mahlerschen Sinn: Das Aufeinandertreffen von Cembalo (Olga Pashchenko) und Hammerklavier (Assen Boyadjiev) ist ja die Begegnung eines untergehenden Instruments mit seinem Nachfolger, der seinen Siegeszug erst antritt – eine sehr heitere Schwermut. Boccherinis 27. Sinfonie D-Dur (1789) ist dagegen ein beglückendes, ausgewogenes Werk, das sich vor Haydn nicht zu verstecken braucht. Besonders zu Herzen gehend das Andante; im Menuett brilliert die junge erste Geigerin. Keine Ahnung, warum man in Deutschland noch immer recht ignorant gegenüber Boccherini ist; dass das nicht immer so war, beweist die Tatsache, dass Friedrich Wilhelm II. diese Sinfonie in Auftrag gab.