Ultraschall Berlin, das Festival für neue Musik wandert durch Berlin, und der Konzertgänger zieht mit – nur nach Oberschöneweide hat seine Familie ihn nicht gelassen: Nach dem Auftakt im Westend und einer Expedition ins DDR-Funkhaus Nalepastraße ging es am Freitag nach Kreuzberg in die Heilig-Kreuz-Kirche und nach Neukölln in den Heimathafen – zeitgenössische Musik einmal klassisch (sehr überzeugend) und einmal heiter bis infernalisch (durchwachsen).
Heilig-Kreuz-Kirche Kreuzberg
Wie über neue Musik gesprochen wird, ist oft das größere Problem als wie sie klingt – die Lektüre von Gegenwartsmusikprogrammen ist meist erheiternd bis quälend. In dem Kreuzberger Konzert, das drei in Berlin lebende Komponisten vorstellt, werden die Schöpfer ans Mikrofon bestellt und fühlen sich erkennbar unwohl: Einer bringt es nüchtern hinter sich. Einer erklärt sogleich, dass man über Musik nicht so viel reden solle (spricht dann aber doch eloquent über sequenzielle Prozesse etc). Einer bleibt stecken und verstummt nahezu, als er nach seinem Verhältnis zu Bruckner gefragt wird. Macht nichts – denn die Musik klingt durchweg inspiriert.
Je zwei Werke spielt das hervorragende elfköpfige Zafraan Ensemble mit schwangerer Harfenistin (was immer ein gutes Omen für ein Konzert ist) unter der Leitung von Titus Engel (der mit seiner lustigen Fransenfrisur als TV-Dirigent übergecastet wirken würde): ein älteres für kleinere Besetzung und ein aktuelles fürs ganze Ensemble als Uraufführung. Alles unter dem etwas gesuchten Leitbegriff Klangrede, der es aber insofern doch trifft, als alle Stücke ohne Erläuterung für sich selbst sprechen.
Das Quintett des Israeli Eres Holz überzeugt nicht nur durch seinen Verzicht auf einen aufgeblasenen Titel, sondern durch seinen geschmeidigen, sehr homogenen Klang – man meint, den Geist des Madrigalgesangs zu spüren, von dem der erfahrene Chorsänger Holz schwärmt. Holz‘ neues Werk Kataklothes bezieht sich auf eine homerische Bezeichnung für die Moiren und spinnt tatsächlich, als wär’s Gesualdo, einen Klang aus dem anderen; keinen Moment verliert der Konzertgänger das Interesse. Selbst wenn Holz zwei schöne Schlüsse verpasst – der dritte klingt auch gut.
Das Klaviertrio des Deutschen Johannes Boris Borowski (der momentan ein Klavierkonzert für Daniel Barenboim komponiert) ist klassisch besetzt und klingt exakt drei Töne lang nach Brahms; danach wird’s etwas pfriemelig, auch wenn die Instrumente sehr gekonnt interagieren und die Streicher tolle Glissandi haben. Auch dieses Stück verpasst einen guten Schluss, dafür gibt es einen langen Flageolett-Diskant-Epilog. – Spektakulär ist Borowskis Ensemble-Stück Dex: Unter dem schlechthin statischen Klang eines Kuckucksrufs, vom Pianisten geflötet, versucht die Musik sich zu regen, bis sie einen heftigen Push bekommt (wie Bergsteiger durch eine Injektion Dexamethason) und abgeht wie der Gehörnte – um am Ende wieder alle Luft zu verlieren. Die Kuckucksrufe werden immer länger und kläglicher, dazu quakt so etwas wie ein Ochsenfrosch, vielleicht als Hadesbegleiter.
Viel Spaß macht auch die Musik des Schweizers Stefan Keller, der die Tabla zu spielen versteht und in Jeans und Schluffpulli tiefe Abgeklärtheit ausstrahlt. Sein Stück Hammer für die Jazzbesetzung Saxophon, Klavier, Schlagzeug hämmert nicht, sondern mäandert eher. Das Saxophon klingt stellenweise wie improvisiert, spielt Mini-Motive aus 2 oder 3 Tönen, die plötzlich explodieren. Im Vergleich zu Holz und Borowski wirkt Kellers Musik etwas additiver, dafür verpasst sie keinen Schluss. Der Titel Soma oder die Lust am Fallenlassen mag etwas zeigefingrig sein, aber man lässt sich gerne fallen, lehnt sich zumindest zurück und betrachtet durchs Apsisfenster den Mond, während sich der Schlagzeuger Daniel Eichholz die Seele aus dem Leib spielt.
Alles Stücke und Komponisten, die man gerne wiederhören möchte. Zum Konzert.
Heimathafen Neukölln
Was man vom zweiten Konzert im überfüllten Heimathafen nicht behaupten kann. Dabei beginnt und endet es toll, auch wenn man es am Schluss kaum mehr mitbekommt…
Die Ballate No. 2 & 3 des Italieners Francesco Filidei sind zarte Klangskulpturen voller Flirren und Ratschen, zunächst fast besinnlich, dann auch theatralisch und turbulent. Die Ballata 3 ist ein subtiles Klavierkonzert, in dem der Pianist Ernst Surberg unmerklich virtuos den Solistenpart übernimmt. Das ensemble mosaik unter der Leitung des Komponisten-Dirigenten Enno Poppe (der im Lustige-Frisuren-Wettbewerb Titus Engel noch aussticht) ist prädestiniert für diese völlig entschlackte, trotzdem feinsinnige und physische Musik. – Auch entschlackt, aber enttäuschend ist dagegen Filideis Bühnenwerk L’Opera (forse), in dem ein Sprecher und sechs Musiker ohne Instrumente die Geschichte von der Liebe einer Nachtigall und eines Karpfens erzählen. Ornitho-ichthyologische Geräuschmusik mit Flaschenblasen und Besteckklappern: hübsche Kleinkunst, der doch das gewisse Etwas fehlt. Sicher auch aufgrund des schwachen Texts und der bemühten Heiterkeit des Sprechers, die den Humorcharme von bundesrepublikanischem 50er-Jahre-Fernsehen ausstrahlt. Außerdem hält keine Vogelmusik dem Vergleich stand, den man als Hörer mit der Erinnerung an die Vogelstimmen eines Frühlingsmorgens oder den Gesang einer Nachtigall im Gebüsch neben der Philharmonie anstellt.
Zur Geduldsprobe wird dann die Solo-Performance des Schlagzeugers Håkon Stene, auch wenn der garantiert ein Spitzenmusiker ist. Matthew Shlomowitz‘ Popular Contexts, Volume 8: Five Soundscapes for a contemporary percussionist verbindet isolierte Alltagsgeräusche (Bus, Flugzeug, Motorsäge, Gewitter usw.) notdürftig mit glöckchenlastigen Schlagzeug-Einlagen. Jeder Spaziergang auf der Neuköllner Karl-Marx-Straße ist akustisch interessanter. Schlimm wird es, als Stene zu einem L’après-midi-d’un-faune-Verschnitt trommeln muss. Das Finale klingt zwar, als träfen sich Edgar Varèse, Slayer und die Teletubbies zu einem Gig, also gar nicht schlecht, aber das Stück ist gelaufen. – In Trond Reinholdtsens ulkig-zornigem Inferno muss Stene sich auf andere Weise verausgaben: hinsetzen, aufstehen, rumrennen. Als Schlagzeuger hat er dagegen nur Knöpfe zu drücken, die trommlerische Höllenmaschinen in Gang setzen. Dazu gibt es auf Video Material- und Formstudien eines schlecht verkleideten Gorillas, wie man sie tatsächlich von manchem Neue-Musik-Konzert kennt: pantschen, mantschen, rühren, klöppeln. Als der Gorilla schließlich zur scheppernden Meistersinger-Ouvertüre 13 Minuten lang ein Riesenomelett backt und verspeist, leert sich der Saal rapide. Die Zumutung ist so gewaltig, dass sie schon etwas Großartiges hat. Nur musikalisch ist diese Video-Theater-Installation einfach nicht von Belang.
Leider gerät das interessante letzte Stück des Abends dadurch unter die Räder. Die Irin Karen Power hat für veiled babble die Stadt Berlin aus dem Wasser belauscht und die Hydrophon-Aufnahmen mit spärlichen Instrumentalklängen verwoben. Diese den Hörer umkreisenden und in Trance versetzenden erlesenen Klanggebilde, durch die Saxophon und Bassflöte dringen wie ferne Nebelhörner, hätten frischere Ohren verdient, sie würden eine Empfänglichkeit und Sensibilität des Hörers erfordern, mit der es nach dem Inferno nicht mehr weit her ist. Stattdessen beginnt der Nachbar des Konzertgängers zu schnarchen. Schade um das Stück, weniger mehr gewesen. Zum Konzert
Samstag und Sonntag geht’s weiter im Radialsystem.
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