Feschttage-Rummel isch over: Nach dem österlichen Großbohei mit Verdi, Wagner, Debussy, Argerich, Barenboim & Co darf die Staatskapelle erstmal verschnaufen vom Akkorddienst im Akkord. Aber just wenn sich Starflut und Klangwogen verzogen haben, tauchen im scheinbar schilfigen Schlick oft die feinsten Perlen auf: etwa Benjamin Brittens nun wiederaufgenommene Kammeroper The Turn of the Screw (1954) nach der Erzählung von Henry James. Dazu brauchts im Orchestergraben nur 13 Musiker: ein Streichquintett, vier Holzbläser, an Blech lediglich ein Horn, dazu Schlagwerk, Harfe und Klavier/Celesta. Während der große Orchesterapparat sich erholen darf, ist das Publikum aufs Äußerste gefordert.
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19. Juni 2015 – Hin und her, hin und her: Samuel Beckett/Morton Feldman und John Cage in der Staatsoper
Nach einer Woche Entzug zieht es den Konzertgänger in zwei Opern nacheinander: erst Feldman/Beckett im großen Saal des Schillertheaters, danach John Cage in der Werkstatt – beides im Rahmen des Festivals Infektion!, das bis zum 12. Juli Musiktheater von Stockhausen bis Hosokawa präsentiert: Ausgerechnet die uralte Tante Staatsoper stemmt einen ganzen Monat lang Neues, ein Alleinstellungsmerkmal unter Berlins großen Musikhäusern.
Samuel Beckett/Morton Feldman: Footfalls/Neither
Ein mehrtägiger Familienbesuch hat den Konzertgänger in jene düstere Stimmung versetzt, in der man Samuel Beckett zu genießen versteht. Der Geist des hageren Iren wandelt noch durchs Schillertheater, das ordentlich besucht ist; der famos günstige Festivalpass, mit dem graumelierte Neue-Musik-Freunde sich wieder als Studenten (oder Studierende) fühlen dürfen, trägt sicher dazu bei. Vor Feldmans Neither gibt es Becketts Sprechstück Footfalls: ein hochartifizielles Pflegedrama, in dem eine auf schummriger Bühne hin und hergehende vereinsamte Frau (Julia Wieninger) aus sich selbst die Stimme ihrer gebrechlichen Mutter hört, alles hochgradig depressiv, aber sprachmusikalisch betörend, auch auf Deutsch: Schwären, Kandelaber, stracks kommen da vor, und das hin und her, hin und her der nicht mehr jungen Tochter gewinnt große Klangkraft.
Um Frauen und Türen geht es in Neither, das Morton Feldman auf der Basis eines Becketttextes komponiert hat: Die Frau hat sich nun vervier- und -vielfacht und rennt gegen sich öffnende und schließende Türen. Durch die fällt verheißungsvolles Licht auf die schummrige Bühne, aber die vervielfachte Frau gelangt niemals durch eine dieser Türen. Eine der Spiegelungen (Laura Aikin, großartig) beginnt zu singen, zunächst minutenlang einen einzigen Ton auf tausend Weisen; im Lauf des Stücks weiten sich Tonumfang und Dynamik in alle Richtungen. Der Text, den Beckett 1976 für Feldman auf eine Postkarte schrieb, bleibt trotzdem unverständlich, aber Bild und Musik erzählen alles: Die Laufphasenverschiebungen der hin und her eilenden Frauen entsprechen den sich wiederholenden, dabei anschwellenden und gegeneinander verschiebenden Klängen; viele Cluster, dann auch sehr einfache tonale Figuren. Ein hinzutretender Harfenton wird zum packenden Ereignis. Als Zuhörer wird man schläfrig oder aber hellhörig; der Konzertgänger pendelt zwischen beidem hin und her, hin und her. Es ist traurig-komisch und überwältigend schön, wie die ganze monotone, berauschende Inszenierung von Katie Mitchell, die schon Frank Martins Tristan-und-Isolde-Oratorium Le vin herbé als faszinierende Zwischenwelt auf die Bühne des Schillertheaters gebracht hat.
John Cage: Europeras 3 & 4
Handfester geht es danach bei der B-Oper in der Werkstatt zu, auch heiterer: 200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt. Nun schicke ich sie alle zurück! So beschrieb Cage seine Europeras, von denen zwei (von sechs) aus dem Jahr 1990 in der Werkstatt des Schillertheaters gespielt werden. Man sitzt dort in einer heterotopischen, das Publikum interaktiv miteinbeziehenden Raumstruktur (Staatsoper-Magazin), anders gesagt sehr unbequem. Dass man sich in der Werkstatt nie anlehnen kann, senkt den Altersschnitt des Publikums wahrscheinlich mehr als das löblich abseitige Repertoire.
Aber von wegen abseitig: Cages krude Oper besteht aus lauter Evergreens aus Opas Plattensammlung, Mozart, Verdi, Wagner, nur eben alle gleichzeitig. Fünf Sänger, zwei Klaviere, einige Plattenspieler und das berühmt-berüchtigte Tonband präsentieren die Klassiker wild durch-, über- und nebeneinander. Dazu gelegentliche Stroboskopblitze, und die pausierenden Sänger gehen hin und her, hin und her. Lustig, wenn plötzlich Papageno hinter einem steht oder die schöne Sängerin ein iPhone aus dem Dekolleté zieht, um nachzulesen, was sie jetzt singen soll; und vor allem sehr beeindruckend, wie die Sänger unbeirrt vom Chaos ihre Arien ausführen. Aber klanglich kommt nicht viel herum, außer dass es sehr laut ist. Das Publikum reagiert mit Kennerlächeln und fröhlichem Opernraten, was doch kaum Sinn der Sache sein kann. Nach 30 Minuten setzt sich der Konzertgänger nach nebenan in die schöne Schiller-Bar, dort klingt es sehr reizvoll, auch leiser, und man sitzt gemütlicher, hört zugleich die angenehmen Polizeisirenen von der Bismarckstraße. Bei einem Bier lässt sich darüber sinnieren, dass für Cage die Geschichte der Oper mit dem 19. Jahrhundert zu Ende ist: kein Berg, Schostakowitsch oder Britten, geschweige denn Henze oder Ligeti. Sind das keine Europeras?
Am Ende des ersten Teils teilt die Abendspielleitung mit, gleich werde es wesentlich ruhiger und intimer; man hat wohl an den letzten Abenden mit der Pause üble Erfahrungen gemacht. Wer nicht heimfährt, geht in die Bar. Haben Sie trockenen Rotwein? fragt eine schicke Dame; Oper ist nicht mehr Schickimicki. Die lesehungrige Barfrau legt als Kaffeehausmusik eine Stockhausen-CD ein.
Trotz der Ansage ist man nach der Pause doch ziemlich unter sich, nur die Plätze an den Wänden bleiben begehrt, zum Anlehnen. Auch in Europeras 4 viel Verdi und Wagner, aber ganz ausgelichtet, fast kammermusikalisch: zwei Sänger (Carola Höhn und Arttu Kataja mit eindrucksvoller Perücke), ein oft nahezu unhörbares Klavier, ein antikes Grammophon und viel Stille führen tatsächlich noch zur erhofften Klangerfahrung. Es kommt zu innigen Momenten, O du mein holder Abendstern aus dem Tannhäuser etwa und dazu das Quietschen der Grammophonkurbel. Am Ende spielt das Klavier eine wunderschöne Paraphrase der verzweifelten Arie von König Philipp aus Don Carlo, ehe die Europeras in der schrillen, beschleunigten Ferne des Grammophons versinken. Da ist John Cages Musik wieder viel mehr als ein Witz mit Überlänge.
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