Was Brachvogel sein Friedemann Bach und Bartsch sein Schwammerl-Schubert war, ist der Avantgarde ihr Carlo Gesualdo (1566-1613): Es wurden nicht nur Gesualdo-Romane geschrieben und ein Gesualdo-Film gedreht (von Werner Herzog), sondern in den letzten 20 Jahren mindestens vier Gesualdo-Opern komponiert – von Alfred Schnittke, Franz Hummel, Marc-André Dalbavie und Salvatore Sciarrino. Konjunktur eines Stoffs, als lebten wir in seliger Barockoperzeit! Und während sich die alten Komponisten wenig um die historischen Xerxes oder Nero scherten, so geht es heute mehr um den durchgeknallten Ehrenmörder Gesualdo als um Weiterlesen
Schlagwort-Archive: David Robert Coleman
10. Juni 2015 – Schön vergänglich: Toshio Hosokawas ‚Matsukaze‘ in der Staatsoper
„Verkehrte Welt“, sagt ein Mann vor Matsukaze zu seinem Mann, „lange Schlange vor der Herrentoilette, und das bei einer Tanzveranstaltung…“ In der Tat! Man könnte sich auch geschlechtsneutral darüber wundern, dass die Berliner Staatsoper rappelvoll ist bei der Aufführung eines Nô-Theaterstücks, das ein lebender Komponist vertont hat, der seine Musik so beschreibt: „Der Ton kommt aus dem Schweigen, er lebt, er geht ins Schweigen zurück.“ (Zumal sich bei ähnlich sublimer Musik, Morton Feldmans Neither in der berückenden Inszenierung von Katie Mitchell, die Zuschauer zuletzt per Handschlag begrüßen konnten.)
Der Andrang ist natürlich (leider) nicht Toshio Hosokawa zu verdanken, auch nicht dem brennenden Interesse der Berliner am traditionellen japanischen Theater, nicht einmal der Begeisterung für die Sängerin Barbara Hannigan, sondern dem Label Sasha Waltz. Diese aparte Mischung lockt auch den Konzertgänger an, der nicht gerade zur Zielgruppe der Tanzcard gehört.
Die langen Schlangen vor den Toiletten sind vernünftig und vorausschauend, da die Aufführung mit Meeresrauschen und Wasserplätschern vom Tonband beginnt, das eine durchaus treibende Wirkung hat. Später werden auch Wassereimer auf die Bühne getragen. Und es gibt keine Pause: Den götterdämmerungsgestählten Senioren macht das nichts aus, aber für das jüngere Publikum (zumal wenn es schon vorher Flaschenbier getrunken hat, um nicht wie Opernspießer zu wirken) wird es zum echten Problem. Dabei geht es in Matsukaze nicht ums Wasser an sich, sondern um das Salz darin: Sinnbild der Welt als Ozean von Tränen, eine Wiederkehr des barocken Depri-Affekts, den Staatskapelle und Freiburger BarockConsort vor einer Woche in einem großartigen Konzert vor allzu leeren Rängen zelebriert haben. Ein pilgernder Mönch trifft die Geister zweier armer Salzbäuerinnen, die einem Geliebten nachtrauern, der wie ein Hosokawa-Ton war: Er kam aus dem Schweigen, lebte bei den Frauen, ging ins Schweigen zurück. Nicht weil er ein Schuft war, sondern weil er unerwartet starb.
Wie Blüten öffnen sich zwischen langen Pausen schöne, oft geisterhafte Klänge, unter denen die europäisch-avantgardistischen vertraut klingen, die japanisch-traditionellen hingegen fremdartig; wer die Differenzierungen dieser Klangsprache nicht kennt, nimmt sie interessiert bis apathisch hin. Manchmal komponiert Hosokawa aber auch ganz naturalistisch: Wenn der Mond aufgeht oder der Tau verdunstet, bewegt die Musik sich nach oben, wenn die Sonne untergeht, nach unten. In dieser Hinsicht (nur in dieser) eher Strauss als Mahler, denkt der Konzertgänger heimlich. Auch die Bewegungen der Tänzer, oft assoziativ und immer schön anzusehen, werden mitunter naturalistisch, in einigen Momenten sogar plakativ: Wenn der Text von der Umklammerung des Menschen durch die Sünde (eine irritierende Vokabel für ein japanisches Theaterstück) spricht, umschlingen die Tänzer einander. Da sind Transzendenz und Anmut futsch.
Trotzdem lässt man sich von Hosokawa und dem Geist des Nô überzeugen: Vergänglichkeit ist schön. Vor allem in so einem Bühnenbild (Pia Maria Shriever und Chiharu Shiota): Unendliche Fäden spinnen sich aus dem Dunkel des Nichts ins Hier und Jetzt. Vom Nachthimmel senkt sich ein Haus, das aus hölzernem Rahmen und unsichtbaren Papierwänden besteht. Der Höhepunkt ist der Auftritt der beiden Schwestern, die hinter einem die gesamte Bühne überspannenden schwarzen Wollnetz langsam ins irdische Elend herabklettern und dabei berückend schön singen, wie japanische Loreleien, die aber nichts Böses wollen, nur trauern, traurig singen: die schwedische Mezzosopranistin Charlotte Hellekant als Murasame, der Herbstregen, und die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan, eine immer wieder beeindruckende Stimmakrobatin, die nie etwas Oberflächliches singt, als Matsukaze, der Wind in den Kiefern. Prima tanzen können sie zudem, diese todtraurigen Geister!
19. Juni 2015 – Hin und her, hin und her: Samuel Beckett/Morton Feldman und John Cage in der Staatsoper
Nach einer Woche Entzug zieht es den Konzertgänger in zwei Opern nacheinander: erst Feldman/Beckett im großen Saal des Schillertheaters, danach John Cage in der Werkstatt – beides im Rahmen des Festivals Infektion!, das bis zum 12. Juli Musiktheater von Stockhausen bis Hosokawa präsentiert: Ausgerechnet die uralte Tante Staatsoper stemmt einen ganzen Monat lang Neues, ein Alleinstellungsmerkmal unter Berlins großen Musikhäusern.
Samuel Beckett/Morton Feldman: Footfalls/Neither
Ein mehrtägiger Familienbesuch hat den Konzertgänger in jene düstere Stimmung versetzt, in der man Samuel Beckett zu genießen versteht. Der Geist des hageren Iren wandelt noch durchs Schillertheater, das ordentlich besucht ist; der famos günstige Festivalpass, mit dem graumelierte Neue-Musik-Freunde sich wieder als Studenten (oder Studierende) fühlen dürfen, trägt sicher dazu bei. Vor Feldmans Neither gibt es Becketts Sprechstück Footfalls: ein hochartifizielles Pflegedrama, in dem eine auf schummriger Bühne hin und hergehende vereinsamte Frau (Julia Wieninger) aus sich selbst die Stimme ihrer gebrechlichen Mutter hört, alles hochgradig depressiv, aber sprachmusikalisch betörend, auch auf Deutsch: Schwären, Kandelaber, stracks kommen da vor, und das hin und her, hin und her der nicht mehr jungen Tochter gewinnt große Klangkraft.
Um Frauen und Türen geht es in Neither, das Morton Feldman auf der Basis eines Becketttextes komponiert hat: Die Frau hat sich nun vervier- und -vielfacht und rennt gegen sich öffnende und schließende Türen. Durch die fällt verheißungsvolles Licht auf die schummrige Bühne, aber die vervielfachte Frau gelangt niemals durch eine dieser Türen. Eine der Spiegelungen (Laura Aikin, großartig) beginnt zu singen, zunächst minutenlang einen einzigen Ton auf tausend Weisen; im Lauf des Stücks weiten sich Tonumfang und Dynamik in alle Richtungen. Der Text, den Beckett 1976 für Feldman auf eine Postkarte schrieb, bleibt trotzdem unverständlich, aber Bild und Musik erzählen alles: Die Laufphasenverschiebungen der hin und her eilenden Frauen entsprechen den sich wiederholenden, dabei anschwellenden und gegeneinander verschiebenden Klängen; viele Cluster, dann auch sehr einfache tonale Figuren. Ein hinzutretender Harfenton wird zum packenden Ereignis. Als Zuhörer wird man schläfrig oder aber hellhörig; der Konzertgänger pendelt zwischen beidem hin und her, hin und her. Es ist traurig-komisch und überwältigend schön, wie die ganze monotone, berauschende Inszenierung von Katie Mitchell, die schon Frank Martins Tristan-und-Isolde-Oratorium Le vin herbé als faszinierende Zwischenwelt auf die Bühne des Schillertheaters gebracht hat.
John Cage: Europeras 3 & 4
Handfester geht es danach bei der B-Oper in der Werkstatt zu, auch heiterer: 200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt. Nun schicke ich sie alle zurück! So beschrieb Cage seine Europeras, von denen zwei (von sechs) aus dem Jahr 1990 in der Werkstatt des Schillertheaters gespielt werden. Man sitzt dort in einer heterotopischen, das Publikum interaktiv miteinbeziehenden Raumstruktur (Staatsoper-Magazin), anders gesagt sehr unbequem. Dass man sich in der Werkstatt nie anlehnen kann, senkt den Altersschnitt des Publikums wahrscheinlich mehr als das löblich abseitige Repertoire.
Aber von wegen abseitig: Cages krude Oper besteht aus lauter Evergreens aus Opas Plattensammlung, Mozart, Verdi, Wagner, nur eben alle gleichzeitig. Fünf Sänger, zwei Klaviere, einige Plattenspieler und das berühmt-berüchtigte Tonband präsentieren die Klassiker wild durch-, über- und nebeneinander. Dazu gelegentliche Stroboskopblitze, und die pausierenden Sänger gehen hin und her, hin und her. Lustig, wenn plötzlich Papageno hinter einem steht oder die schöne Sängerin ein iPhone aus dem Dekolleté zieht, um nachzulesen, was sie jetzt singen soll; und vor allem sehr beeindruckend, wie die Sänger unbeirrt vom Chaos ihre Arien ausführen. Aber klanglich kommt nicht viel herum, außer dass es sehr laut ist. Das Publikum reagiert mit Kennerlächeln und fröhlichem Opernraten, was doch kaum Sinn der Sache sein kann. Nach 30 Minuten setzt sich der Konzertgänger nach nebenan in die schöne Schiller-Bar, dort klingt es sehr reizvoll, auch leiser, und man sitzt gemütlicher, hört zugleich die angenehmen Polizeisirenen von der Bismarckstraße. Bei einem Bier lässt sich darüber sinnieren, dass für Cage die Geschichte der Oper mit dem 19. Jahrhundert zu Ende ist: kein Berg, Schostakowitsch oder Britten, geschweige denn Henze oder Ligeti. Sind das keine Europeras?
Am Ende des ersten Teils teilt die Abendspielleitung mit, gleich werde es wesentlich ruhiger und intimer; man hat wohl an den letzten Abenden mit der Pause üble Erfahrungen gemacht. Wer nicht heimfährt, geht in die Bar. Haben Sie trockenen Rotwein? fragt eine schicke Dame; Oper ist nicht mehr Schickimicki. Die lesehungrige Barfrau legt als Kaffeehausmusik eine Stockhausen-CD ein.
Trotz der Ansage ist man nach der Pause doch ziemlich unter sich, nur die Plätze an den Wänden bleiben begehrt, zum Anlehnen. Auch in Europeras 4 viel Verdi und Wagner, aber ganz ausgelichtet, fast kammermusikalisch: zwei Sänger (Carola Höhn und Arttu Kataja mit eindrucksvoller Perücke), ein oft nahezu unhörbares Klavier, ein antikes Grammophon und viel Stille führen tatsächlich noch zur erhofften Klangerfahrung. Es kommt zu innigen Momenten, O du mein holder Abendstern aus dem Tannhäuser etwa und dazu das Quietschen der Grammophonkurbel. Am Ende spielt das Klavier eine wunderschöne Paraphrase der verzweifelten Arie von König Philipp aus Don Carlo, ehe die Europeras in der schrillen, beschleunigten Ferne des Grammophons versinken. Da ist John Cages Musik wieder viel mehr als ein Witz mit Überlänge.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.