4.4.2016 – 2 x 3 strophes: Johannes Moser spielt Dutilleux

Eine der löblichsten Einrichtungen im Berliner Musikleben ist die Reihe 2 x hören im Konzerthaus. Natürlich sind Gesprächskonzerte keine neue Erfindung, es gibt auch einige andere Formate, etwa im Radialsystem. Aber die Idee: ein Werk im ganzen zu hören, danach ein wenig voranalysiert und erklärt zu bekommen, dann das Werk ein zweites Mal zu hören, ist ein schönes, einfaches Konzept. Zumal dafür immer wieder namhafte Solisten in den Werner-Otto-Saal unter dem Dach des Konzerthauses hinaufsteigen, Tabea Zimmermann oder Igor Levit waren schon da. Wahrscheinlich nicht nur aus didaktischem Pflichtbewusstsein, sondern weil es auch einem Musiker gut tun muss, das stoffelige Wesen Hörer, ohne das es ja irgendwie nicht geht, am Ende etwas weniger unwissend zu wissen.

Diesmal ist der Cellist Johannes Moser zu Gast, ein Star, bei dem laut SPIEGEL das Klassik-Publikum rast. Er spielt die Trois strophes sur le nom de Sacher“ für Violoncello solo (1976) von Henri Dutilleux, der die Gourmets unter den Neue-Musik-Freunden rasen macht und auch den Avantgardemuffel becirct. Während die halbe Welt über Putins märchenhaft reichen Cellisten spricht (der jedoch nicht ganz sauber intoniert), offenbart Moser im Gespräch, dass er keinen festen Wohnsitz hat, gestern Amsterdam, morgen Neuseeland; und die Celli seien heutzutage auch so teuer, dass man sie besser nicht wie weiland Rostropowitsch im Casino verspielen sollte.

Leider neigt der Moderator Christian Jost (der sich selbst Kurator nennt) an diesem Abend zum selbstbespiegelnden Ad-libitum-Geplänkel, über all den Anekdoten und Erinnerungen und Komplimenten für Mosers Cellokünste kommt die Konzentration auf Dutilleux‘ Werk zu kurz. Nur gut, dass der wohltuend lockere, aber nicht zerstreute Moser immer wieder in medias res geht und kurzentschlossen die sechs aus dem Namen Paul Sachers abgeleiteten Töne vorspielt, die Dutilleux im Auftrag Rostropowitschs zur Grundlage seines Werkes nahm: Es – A – C – H – E- Re (=D). Wobei Jost zwischen jedem Ton noch einmal den Namen nennt, so dass der ohnehin sperrige Höreindruck schon wieder flöten geht. Später wird der Bezug auf Béla Bartóks von Sacher in Auftrag gegebene Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta mehr erwähnt als analysiert. Schade, dass Jost, der im Hauptberuf ja Komponist ist, beim Blick auf Dutilleux sein eigenes Metier ignoriert: Wie genau werden denn hier aus sechs beliebigen Tönen ganze Phrasen und schließlich ein zauberhaftes Werk? Darüber wüsste man gern mehr und Genaueres. Die Leinwand hinter den Gesprächssesseln wartet auf Notenprojektionen, bleibt aber dunkel. Der ehemalige Moderator der Reihe, Arno Lücker, der mittlerweile den Ableger 2 x hören klassisch verantwortet, hat mit seiner forcierten Flapsigkeit zwar manchmal genervt, aber immer vorgemacht, wie man mit Gewinn in eine komplexe Partitur blicken kann, ohne dass die Veranstaltung zum Seminar für verschrobene Spezialisten wird. Bei 2 x hören zeitgenössisch wäre das wieder wünschenswert, bei aller lobenswerten Niederschwelligkeit.

Sehr interessant aber, zum Vergleich Witold Lutosławskis dreiminütige Sacher-Variationen zu hören, mit ihren engschrittigen Figuren und kompakten Wirbeln ein überaus witziger Gegenentwurf zu Dutilleux‘ sehr klassisch strukturierten Sacherstücken: Deren erstes ist offenhörlich thematisch fokussiert, das zweite kantabel bis elegisch, das dritte lustig galoppierend. Schön sind sie auf jeden Fall. Im Gespräch erzählt Moser, dass er sich zu einer Einladung von Dutilleux vor einigen Jahren nicht traute, weil er die Trois strophes noch nicht drauf hatte, nur das Cellokonzert. Nun ist Dutilleux seit bald drei Jahren tot, und Moser hat die Trois strophes sur le nom de Sacher bestens drauf. Hier spielt er sie zum ersten Mal im Konzert. Und natürlich auch zum zweiten Mal. Man meint, dass er sie beim zweiten Mal besser spielt als beim ersten Mal. Ganz sicher hört man sie beim zweiten Mal besser – auch wenn man nicht recht weiß, warum.

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29.1.2016 – Feinsinnig-orgiastisch: RSB spielt Debussy und Dutilleux

Manchmal hat Schrott sein Gutes: Vor einer Woche war beim ULTRASCHALL-Festival für neue Musik im Heimathafen Neukölln eine Synthie-Version des Nachmittags eines Fauns zu hören, die die Fingernägel kräuseln machte – natürlich parodistisch gemeint, trotzdem unentschuldbar. Wenn nun im Konzerthaus echte Holzbläser den einstimmigen Beginn von Claude Debussys Le Martyre de Saint Sébastien anstimmen, genießt man den schillernden Klang selbst einer so spröden Linie. Das kann nur Orchester – und das Rundfunk-Sinfonieorchester besonders.

Debussy hat diese merkwürdige Musik auf einen schwülstigen Text von Gabriele d’Annunzio komponiert, den man besser nicht liest, weil er sonst an der Musik zu kleben droht. Besser schließt man die Augen und denkt hörend an den Heiligen Sebastian von Botticelli (oder Antonello da Messina oder Mantegna). Der Beginn erinnert fast an Erik Satie, spätere Passagen an die Himmelfahrtsmusik von Messiaen; das Finale Le bon Pasteur hat was von fieser religiöser Schmonzette, aber herrliche Klangmischungen.

Marek Janowski wirkt zwar immer wie ein teutonischer Knurrhahn, aber seine Pingeligkeit ist genau das Richtige für diese Musik, die erst durch Präzision ins Fließen gerät. Auch in La Mer nichts Verschwommenes oder Sfumatohaftes, stattdessen ein perfekt aufgefächertes, sehr bewegliches Klangbild. Das Stück handelt ja ohnehin nicht vom Meer, höchstens von der Meeresoberfläche, von Licht und Bewegung, es könnte ebensogut La Neige heißen. (Bei Strauss würde eine Tondichtung Das Meer brausen und nach Fisch stinken, bei Ravel endlose Tiefe evozieren, in der Wale und Fabelwesen unter dem schlafenden Seemann durch die ewige Dunkelheit ziehen.) Allerdings zielt Janowski nicht auf Gleichgewicht, wie sich im hochgradig geschärften Finale zeigt, das die Cellisten druckvoll beginnen: Der Dialogue du vent et de la mer ist eher ein Kampf, Schönheit und Schrecken liegen nah beieinander. Der Schluss knallt, als wär’s La Valse. Mitreißend.

Die Debussy-Stücke rahmen an diesem französischen Abend zwei Werke von Henri Dutilleux (1916-2013), von dem Wissende wissen wollen, dass seine Musik länger überdauern werde als die von Boulez. Auf jeden Fall entfaltet sich in ihr ein Orchesterzauber, dem gegenüber Debussy fast eindimensional klingt: feinsinnige Orgien für Klangfarbenhedonisten. Außerdem hatte er einen besseren Literaturgeschmack als Debussy. Das Cellokonzert „Tout un monde lointain…“ ist von Baudelaire-Versen inspiriert, aber in einem eher assoziativen Verhältnis, ein zusätzliches Angebot für den Bilder und Begriffe suchenden Hörer, ähnlich wie bei Debussy und dem Meer. Die RSB-Cellistin Konstanze von Gutzeit beweist eindrucksvoll, dass dieses Orchester überhaupt keine externen Solisten nötig hätte; es sei denn aus Vermarktungsgründen. (Allerdings, wenn es um Marketing geht: Eine attraktivere Cellistin als Gutzeit gibt es nicht mal in Südamerika; diese musikalisch irrelevante Bemerkung nur am Rande.) Das Cello brilliert von vollen und inbrünstigen Klängen (Dutilleux komponierte für Rostropowitsch…) bis zu ganz gläsernen und zerbrechlichen Passagen, während das Orchester immer neue, immer subtilere Mischklänge hervorbringt.

In den Métaboles, ohne literarische Referenz, treten die Orchestergruppen wechselweise, aber nicht strikt getrennt hervor, bevor sie sich in einem betörenden glanz- und lustvollen Klangrausch vereinigen. Das ist viel mehr als ein glorioser Qualitätsnachweis für ein Orchester – aber es ist auch das.

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23. Juni 2015 – Rumpelstilzchig: RSB, Vasily Petrenko und Truls Mørk leiden und lärmen Schostakowitsch

Vasily ist auch kein schlechter Petrenko. Einen Tag nachdem der (fußballerdeutsch gesprochen) weder verwandte noch verschwägerte Kirill zum künftigen Chef der Berliner Philharmoniker gewählt wurde, gastiert Vasily Petrenko beim Rundfunk-Sinfonieorchester. Mit einem reinen Schostakowitschprogramm.

Aus tiefstem Grübeln über Schostakowitsch wird der Konzertgänger gerissen, als auf dem Weg zur Philharmonie die Queen seinen Weg kreuzt; keine Schaulustigen auf der Straße des 17. Juni, nur ein paar zufällige Passanten, denen die Queen und Prinz Philipp (unterwegs von Tegel zum Adlon) aus ihrer schönen Limousine freundlich zunicken.

Featured imageDabei hatte der Konzertgänger auf seinem Fahrrad gerade darüber nachgedacht, dass man beim Schostakowitschhören weniger semantisieren sollte. Aber kaum beginnt das Cello-Konzert Nr. 1 Es-Dur op. 107 (1959) fühlt er sich schon wieder zur Exegese gezwungen: Das manische Vier-Ton-Thema des Cellos springt den Hörer an und lässt ihn nie wieder los. Ein wütender Rumpelstilzchen-Ohrwurm, Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich D-Es-C-H heiß, denn diese Schostakowitsch-Chiffre verbirgt sich ja im G-E-H-B-Motiv, wie uns die Musikgelehrten darlegen. Der Cellist Truls Mørk sieht nicht gerade aus wie Sol Gabetta, sondern ist halt ein Däne Norweger (danke an bodrum für den Hinweis) mit einer Halbglatze, aber das ist auch alles, was man gegen ihn sagen kann; er spielt und leidet mit äußerster Emphase, ein mitreißender Auftritt.

Der erste Satz ist bizarr kregel, das Orchester hetzt dem Cello nach, immer wieder tritt das Horn (einziges Blech im Orchester) hervor; wenn es nicht Schostakowitsch wäre, könnte man dieses Allegretto glatt für heiter halten, inklusive dem lustigen Schlussbumms. Aber da ist man schon in der Kurve, die nur noch abwärts führt: in den zweiten Satz Moderato, einen todtraurigen Gesang, der in fahlem Flirren und schließlich völliger Erstarrung endet. Im dritten Satz Cadenza ist das Cello dann ganz allein, wie in einem Totenhaus. (Eine Leiche hustet allerdings noch, eine andere hat ein Handy in der Tasche.) Es ist, als wolle das Cello irgendwie weitermachen, obwohl eigentlich alles aus ist, es setzt neu an, tastet, probiert, bis es schließlich wieder Kraft gewinnt, das Rumpelstilzchen-Motto wiederfindet und ins Finale stürmt, Allegro con moto. Jede Menge moto! Ist das trotzige Lebensenergie oder eine neue Hetzjagd? Wie gesagt, man sollte vielleicht beim Schostakowitschhören weniger semantisieren. Aber die spitzen Piccolo-Schreie, die das Thema in der Luft zerreißen, lassen einen nicht los. Alles fühlt mit diesem gehetzten, singenden, rumpelstilzchenden Cello.

Obwohl nur vier Opusziffern und zwei Jahre, liegen doch Welten zwischen dem Cello-Konzert und der Sinfonie Nr. 11 g-moll op. 103 (1957), die im Titel auf das Jahr 1905 Bezug nimmt, als der Zar in Petersburg das protestierende hungernde Volk niederkartätschen ließ. Der Konzertgänger kennt all die revolutionären Lieder nicht, die Schostakowitsch hier zitiert; so folgt er mit gelegentlich geschlossenen Augen den plakativen Klängen, zunächst einer herrlich mussorgskyhaft bleichen Morgen-Atmosphäre, dann jedoch bald minutenlangem Leerlauf, der nichts von furios monotoner Sause hat wie andere Schostakowitsch-Werke. Kaum eine Veränderung folgt aus der Musik selbst, sondern alles aus Anstößen von außen, Ereignissen, die man sich halt vorstellen muss: tatsächlich eine Filmmusik ohne Film. Natürlich tausend Meilen über Hans Zimmer, aber für eine Schostakowitsch-Symphonie fehlen doch ein paar Ebenen. Das RSB präsentiert den Score in perfektem Breitwandsound, mitunter beeindruckend laut. Und beeindruckend lang. Vasily Petrenko hat die Klangmassen souverän im Griff, aber er scheint nur auf die dramatischen Effekte zu zielen und wird dabei selbst zum Rumpelstilzchen, in einem völlig anderen Sinn als das Cello-Rumpelstilzchen. Wenn es in dieser Musik irgendwelche Brüche geben sollte, ist es jedenfalls nicht Petrenkos Absicht, sie herauszukitzeln.

Das alles ist zweifellos ein Erlebnis, und es ist ja nicht verboten, sich im Konzert hinwegblasen zu lassen. Euphorischer Jubel, wie ein KPdSU-Parteitag in der O2-World. Den Konzertgänger dünkt, dass diese Sinfonie ganz zurecht den Leninpreis erhalten hat. Interessant, einmal gehört zu haben, dass Schostakowitsch auch so etwas komponiert hat, nicht lange vor seinem singulären Spätwerk, den erschütternden Streichquartetten, den totendüsteren Sinfonien 13 bis 15.

Auf dem Heimweg, unter duftenden Linden, ist das ohrenbetäubende Inferno weit weg, dafür wieder das Cello-Rumpelstilzchen da, man wird es so schnell nicht los.

Zum Konzert

Das Konzert auf Deutschlandradio Kultur zum Nachhören