Vasily ist auch kein schlechter Petrenko. Einen Tag nachdem der (fußballerdeutsch gesprochen) weder verwandte noch verschwägerte Kirill zum künftigen Chef der Berliner Philharmoniker gewählt wurde, gastiert Vasily Petrenko beim Rundfunk-Sinfonieorchester. Mit einem reinen Schostakowitschprogramm.
Aus tiefstem Grübeln über Schostakowitsch wird der Konzertgänger gerissen, als auf dem Weg zur Philharmonie die Queen seinen Weg kreuzt; keine Schaulustigen auf der Straße des 17. Juni, nur ein paar zufällige Passanten, denen die Queen und Prinz Philipp (unterwegs von Tegel zum Adlon) aus ihrer schönen Limousine freundlich zunicken.
Dabei hatte der Konzertgänger auf seinem Fahrrad gerade darüber nachgedacht, dass man beim Schostakowitschhören weniger semantisieren sollte. Aber kaum beginnt das Cello-Konzert Nr. 1 Es-Dur op. 107 (1959) fühlt er sich schon wieder zur Exegese gezwungen: Das manische Vier-Ton-Thema des Cellos springt den Hörer an und lässt ihn nie wieder los. Ein wütender Rumpelstilzchen-Ohrwurm, Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich D-Es-C-H heiß, denn diese Schostakowitsch-Chiffre verbirgt sich ja im G-E-H-B-Motiv, wie uns die Musikgelehrten darlegen. Der Cellist Truls Mørk sieht nicht gerade aus wie Sol Gabetta, sondern ist halt ein Däne Norweger (danke an bodrum für den Hinweis) mit einer Halbglatze, aber das ist auch alles, was man gegen ihn sagen kann; er spielt und leidet mit äußerster Emphase, ein mitreißender Auftritt.
Der erste Satz ist bizarr kregel, das Orchester hetzt dem Cello nach, immer wieder tritt das Horn (einziges Blech im Orchester) hervor; wenn es nicht Schostakowitsch wäre, könnte man dieses Allegretto glatt für heiter halten, inklusive dem lustigen Schlussbumms. Aber da ist man schon in der Kurve, die nur noch abwärts führt: in den zweiten Satz Moderato, einen todtraurigen Gesang, der in fahlem Flirren und schließlich völliger Erstarrung endet. Im dritten Satz Cadenza ist das Cello dann ganz allein, wie in einem Totenhaus. (Eine Leiche hustet allerdings noch, eine andere hat ein Handy in der Tasche.) Es ist, als wolle das Cello irgendwie weitermachen, obwohl eigentlich alles aus ist, es setzt neu an, tastet, probiert, bis es schließlich wieder Kraft gewinnt, das Rumpelstilzchen-Motto wiederfindet und ins Finale stürmt, Allegro con moto. Jede Menge moto! Ist das trotzige Lebensenergie oder eine neue Hetzjagd? Wie gesagt, man sollte vielleicht beim Schostakowitschhören weniger semantisieren. Aber die spitzen Piccolo-Schreie, die das Thema in der Luft zerreißen, lassen einen nicht los. Alles fühlt mit diesem gehetzten, singenden, rumpelstilzchenden Cello.
Obwohl nur vier Opusziffern und zwei Jahre, liegen doch Welten zwischen dem Cello-Konzert und der Sinfonie Nr. 11 g-moll op. 103 (1957), die im Titel auf das Jahr 1905 Bezug nimmt, als der Zar in Petersburg das protestierende hungernde Volk niederkartätschen ließ. Der Konzertgänger kennt all die revolutionären Lieder nicht, die Schostakowitsch hier zitiert; so folgt er mit gelegentlich geschlossenen Augen den plakativen Klängen, zunächst einer herrlich mussorgskyhaft bleichen Morgen-Atmosphäre, dann jedoch bald minutenlangem Leerlauf, der nichts von furios monotoner Sause hat wie andere Schostakowitsch-Werke. Kaum eine Veränderung folgt aus der Musik selbst, sondern alles aus Anstößen von außen, Ereignissen, die man sich halt vorstellen muss: tatsächlich eine Filmmusik ohne Film. Natürlich tausend Meilen über Hans Zimmer, aber für eine Schostakowitsch-Symphonie fehlen doch ein paar Ebenen. Das RSB präsentiert den Score in perfektem Breitwandsound, mitunter beeindruckend laut. Und beeindruckend lang. Vasily Petrenko hat die Klangmassen souverän im Griff, aber er scheint nur auf die dramatischen Effekte zu zielen und wird dabei selbst zum Rumpelstilzchen, in einem völlig anderen Sinn als das Cello-Rumpelstilzchen. Wenn es in dieser Musik irgendwelche Brüche geben sollte, ist es jedenfalls nicht Petrenkos Absicht, sie herauszukitzeln.
Das alles ist zweifellos ein Erlebnis, und es ist ja nicht verboten, sich im Konzert hinwegblasen zu lassen. Euphorischer Jubel, wie ein KPdSU-Parteitag in der O2-World. Den Konzertgänger dünkt, dass diese Sinfonie ganz zurecht den Leninpreis erhalten hat. Interessant, einmal gehört zu haben, dass Schostakowitsch auch so etwas komponiert hat, nicht lange vor seinem singulären Spätwerk, den erschütternden Streichquartetten, den totendüsteren Sinfonien 13 bis 15.
Auf dem Heimweg, unter duftenden Linden, ist das ohrenbetäubende Inferno weit weg, dafür wieder das Cello-Rumpelstilzchen da, man wird es so schnell nicht los.
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