24.2.2016 – Anmutig erschütternd: Mandelring Quartett spielt Beethoven, Schostakowitsch, Brahms

Ein untrügliches Indiz dafür, wie gut das Mandelring Quartett ist, sind die vielen Streicher im Publikum: Lauter Geigen-, Bratschen- und Cellokästen werden an der Garderobe des Kammermusiksaals abgegeben, wo jeder Schatz sicher liegt wie in Abrahams Schoß. Nur die neue Garderobenfrau fragt eine Japanerin, die ihr den Geigenkasten reichen will: „Ist er sehr schwer?“

Aber es ist kein Konzert nur für Spezialisten. Als kleine Einstiegshilfe gibt das Mandelring Quartett seinen Programmen (ähnlich wie das Freiburger Barockorchester) hübsche Titel, an diesem Abend Anmut und Erschütterung. Auch Antrieb und Erstarrung könnte man sich vorstellen, wenn man die 3 Werke dieses Abends hört. Denn purer Antrieb ist das Streichquartett D-Dur op. 18, 3, das entgegen der Nummerierung früheste Quartett von Ludwig van Beethoven (1798/99). Obwohl Beethoven hier noch auf Ignaz Schuppanzighs elende Geige Rücksicht nahm, sprach bereits der Geist zu ihm, und die mozart-haydnsche Anmut wird immer wieder erschüttert. Am explosivsten klingt der leiseste Satz, nämlich der dritte: Da rumort schon das Scherzo, aber nie über die Grenze des Halblauten. Das dramatische Feuerwerk im Finale klingt dann gar nicht mehr nach Haydn. Die vielgerühmte Homogenität des Mandelring Quartetts klingt in den ersten Minuten noch leicht getrübt, aber das sind Lappalien, die einem bei einem anderen Quartett gar nicht auffielen. Dass der Bratschist Andreas Willwohl erst seit einigen Monaten dabei ist, nicht schon seit Jahrzehnten, bemerkt (wie schon beim Mendelssohn-Marathon im Radialsystem im November) kein Mensch, der es nicht weiß. In der Pause nach dem ersten Satz schaut der Primarius Sebastian Schmidt belustigt ins Publikum, das sich wie auf Knopfdruck einen abhustet.

Nicht nur leicht, sondern extrem getrübt beginnt dann das Streichquartett Nr. 8 c-Moll  von Dmitri Schostakowitsch, was bei diesem Werk kein Mangel, sondern Sinn der Sache ist: Offiziell der Erinnerung an die Opfer des Faschismus und des Krieges gewidmet, schnüren dem Hörer die Gewalt des 2. Satzes und das aufklingende jüdische Klagelied den Hals zu, genau wie die Akkordsalven im 4. Satz, die an eine Hinrichtung denken lassen. Zugleich ist das Quartett mit seinem berühmten manischen D-Es-C-H-Motiv unüberhörbar persönlich. Unnachahmlich der Brief an Isaak Glikman, in dem Schostakowitsch es als vorweggenommenes Requiem auf sich selbst beschreibt, und weiter:

Dieses Quartett ist von einer derartigen Pseudotragik, dass ich beim Komponieren so viele Tränen vergossen habe, wie man Wasser lässt nach einem halben Dutzend Bieren. Zu Hause angekommen, habe ich es zweimal zu spielen versucht , und wieder kamen mir die Tränen. Aber diesmal schon nicht mehr nur wegen seiner Pseudotragik, sondern auch wegen meines Erstaunens über die wunderbare Geschlossenheit seiner Form.

Das Mandelring-Quartett, von dem es eine außerordentliche Gesamteinspielung der Streichquartette gibt, beherrscht den fahlen, schneidenden, klagesingenden Schostakowitsch-Ton vollkommen; das Singende an diesem Abend besonders eindrücklich der Cellist Bernhard Schmidt im 3. und 4. Satz.

Ob man das D-Es-C-H-Motiv nun, wie ein Hörer es tut, in der Pause auf der Toilette pfeifen muss, ist Geschmackssache. (Aber auch der Sohn des Konzertgängers hat es schon mit sechs Jahren auf dem Klavier geklimpert; es gefälllt ihm besser als B-A-C-H.)

Selbst Johannes Brahms‘ Streichquartett c-Moll op. 51,1 ist kein Fall nur für Spezialisten, im Gegenteil. Zwar gehört es zu Brahms‘ Werken mit unfassbar komplexen Außensätzen, die man desto weniger anzuhören wagt, je mehr man darüber liest. Zumal wenn man erfährt, dass Schönberg im Aufsatz Brahms, der Fortschrittliche seinen furchteinflößenden Begriff der entwickelnden Variation an ebendiesem Quartett belegte; und dass Brahms 20 Jahre lang 20 fertige Quartette in die Tonne kloppte, bevor er dieses eine gelten ließ.

Der Laie kann im Kopfsatz  und im Finale zwar kaum nachvollziehen, wie sich die Musik entwickelnd variiert und variierend entwickelt. Aber dass sie es tut, hört er doch. Und wie die grimmigen und melancholischen Figuren einander packen und weiterziehen und voranschleudern, packt, zieht und schleudert auch ihn. Besonders ergreifend bei Brahms immer die Momente, in denen der hyperkomplexe Dauerantrieb für einen Moment erstarrt, als begriffe er sich selbst nicht mehr – für den Konzertgänger neunzehntes Jahrhundert schlechthin.

Er wundert sich nur, wie man das alles in solcher Perfektion zusammenspielen kann wie das Mandelring Quartett, ohne dass einem die Einzelteile um die Ohren fliegen.

Und dann ist da ja immer noch die innige, fast schon beschämende Schönheit der brahmsschen Mittelsätze. Keine pragmatische Entlastung für den strapazierten Hörer, sondern ästhetisch notwendiges Komplement zu den ungeheuren intellektuellen und emotionalen Entladungen der Rahmensätze. An diesem Abend ist alles da, was Brahms ausmacht: die Süße der Logik und die Logik der Süße – Anmut und Erschütterung.

Als Zugaben das Menuett aus Haydns Opus 71, 2 D-Dur und das Assez vif et bien rythmé aus Debussys Streichquartett.

Das Mandelring-Quartett kommt wieder nach Berlin am 15. April plus Klavier, am 4. Juni mit Genie und Wahnsinn.

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23. Juni 2015 – Rumpelstilzchig: RSB, Vasily Petrenko und Truls Mørk leiden und lärmen Schostakowitsch

Vasily ist auch kein schlechter Petrenko. Einen Tag nachdem der (fußballerdeutsch gesprochen) weder verwandte noch verschwägerte Kirill zum künftigen Chef der Berliner Philharmoniker gewählt wurde, gastiert Vasily Petrenko beim Rundfunk-Sinfonieorchester. Mit einem reinen Schostakowitschprogramm.

Aus tiefstem Grübeln über Schostakowitsch wird der Konzertgänger gerissen, als auf dem Weg zur Philharmonie die Queen seinen Weg kreuzt; keine Schaulustigen auf der Straße des 17. Juni, nur ein paar zufällige Passanten, denen die Queen und Prinz Philipp (unterwegs von Tegel zum Adlon) aus ihrer schönen Limousine freundlich zunicken.

Featured imageDabei hatte der Konzertgänger auf seinem Fahrrad gerade darüber nachgedacht, dass man beim Schostakowitschhören weniger semantisieren sollte. Aber kaum beginnt das Cello-Konzert Nr. 1 Es-Dur op. 107 (1959) fühlt er sich schon wieder zur Exegese gezwungen: Das manische Vier-Ton-Thema des Cellos springt den Hörer an und lässt ihn nie wieder los. Ein wütender Rumpelstilzchen-Ohrwurm, Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich D-Es-C-H heiß, denn diese Schostakowitsch-Chiffre verbirgt sich ja im G-E-H-B-Motiv, wie uns die Musikgelehrten darlegen. Der Cellist Truls Mørk sieht nicht gerade aus wie Sol Gabetta, sondern ist halt ein Däne Norweger (danke an bodrum für den Hinweis) mit einer Halbglatze, aber das ist auch alles, was man gegen ihn sagen kann; er spielt und leidet mit äußerster Emphase, ein mitreißender Auftritt.

Der erste Satz ist bizarr kregel, das Orchester hetzt dem Cello nach, immer wieder tritt das Horn (einziges Blech im Orchester) hervor; wenn es nicht Schostakowitsch wäre, könnte man dieses Allegretto glatt für heiter halten, inklusive dem lustigen Schlussbumms. Aber da ist man schon in der Kurve, die nur noch abwärts führt: in den zweiten Satz Moderato, einen todtraurigen Gesang, der in fahlem Flirren und schließlich völliger Erstarrung endet. Im dritten Satz Cadenza ist das Cello dann ganz allein, wie in einem Totenhaus. (Eine Leiche hustet allerdings noch, eine andere hat ein Handy in der Tasche.) Es ist, als wolle das Cello irgendwie weitermachen, obwohl eigentlich alles aus ist, es setzt neu an, tastet, probiert, bis es schließlich wieder Kraft gewinnt, das Rumpelstilzchen-Motto wiederfindet und ins Finale stürmt, Allegro con moto. Jede Menge moto! Ist das trotzige Lebensenergie oder eine neue Hetzjagd? Wie gesagt, man sollte vielleicht beim Schostakowitschhören weniger semantisieren. Aber die spitzen Piccolo-Schreie, die das Thema in der Luft zerreißen, lassen einen nicht los. Alles fühlt mit diesem gehetzten, singenden, rumpelstilzchenden Cello.

Obwohl nur vier Opusziffern und zwei Jahre, liegen doch Welten zwischen dem Cello-Konzert und der Sinfonie Nr. 11 g-moll op. 103 (1957), die im Titel auf das Jahr 1905 Bezug nimmt, als der Zar in Petersburg das protestierende hungernde Volk niederkartätschen ließ. Der Konzertgänger kennt all die revolutionären Lieder nicht, die Schostakowitsch hier zitiert; so folgt er mit gelegentlich geschlossenen Augen den plakativen Klängen, zunächst einer herrlich mussorgskyhaft bleichen Morgen-Atmosphäre, dann jedoch bald minutenlangem Leerlauf, der nichts von furios monotoner Sause hat wie andere Schostakowitsch-Werke. Kaum eine Veränderung folgt aus der Musik selbst, sondern alles aus Anstößen von außen, Ereignissen, die man sich halt vorstellen muss: tatsächlich eine Filmmusik ohne Film. Natürlich tausend Meilen über Hans Zimmer, aber für eine Schostakowitsch-Symphonie fehlen doch ein paar Ebenen. Das RSB präsentiert den Score in perfektem Breitwandsound, mitunter beeindruckend laut. Und beeindruckend lang. Vasily Petrenko hat die Klangmassen souverän im Griff, aber er scheint nur auf die dramatischen Effekte zu zielen und wird dabei selbst zum Rumpelstilzchen, in einem völlig anderen Sinn als das Cello-Rumpelstilzchen. Wenn es in dieser Musik irgendwelche Brüche geben sollte, ist es jedenfalls nicht Petrenkos Absicht, sie herauszukitzeln.

Das alles ist zweifellos ein Erlebnis, und es ist ja nicht verboten, sich im Konzert hinwegblasen zu lassen. Euphorischer Jubel, wie ein KPdSU-Parteitag in der O2-World. Den Konzertgänger dünkt, dass diese Sinfonie ganz zurecht den Leninpreis erhalten hat. Interessant, einmal gehört zu haben, dass Schostakowitsch auch so etwas komponiert hat, nicht lange vor seinem singulären Spätwerk, den erschütternden Streichquartetten, den totendüsteren Sinfonien 13 bis 15.

Auf dem Heimweg, unter duftenden Linden, ist das ohrenbetäubende Inferno weit weg, dafür wieder das Cello-Rumpelstilzchen da, man wird es so schnell nicht los.

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31. Mai 2015 – Fetzig: Schubert und Schostakowitsch von den Berliner Philharmonikern und Bernard Haitink

In Berlin sind jeden Tag Musikfestspiele. Man kann morgens zu András Schiff gehen, nachmittags zum Mitsingkonzert des Rundfunkchors (oder eine Stippvisite bei der Familie machen) und abends zu den Berliner Philharmonikern unter Haitink.

Bernard Haitink dirigiert statt des ursprünglich geplanten Lorin Maazel, der vor einem knappen Jahr verstorben ist. Dem Andenken Maazels ist, wie es sich gehört, das Konzert gewidmet; im Mittelpunkt steht allerdings keine weihevolle Trauermusik, sondern ein drastisches Todes-Werk, Schostakowitschs letzte Symphonie.

Zuvor gibt es aber Franz Schuberts 5. Symphonie in B-Dur. Die Philharmoniker spielen sie in kleiner Besetzung, mit durchgehend zartem Klang, den man noch lieber im Kammermusiksaal hören würde – die herrlich leichte Flöte verliert sich etwas im Saal. Angeblich eine sehr helle Symphonie, fallen doch schon im Kopfsatz die kurzen Moll-Einwürfe auf. Im zweiten Satz wirkt die Musik fast zerbrechlich; in den Bassfiguren scheint sich etwas sanft Bedrohliches heranzuschleichen. Aber es kommt erstmal nicht, auch nicht im zart grimmigen Moll-Scherzo (das sehr deutlich nach dem Menuett aus Mozarts g-Moll-Symphonie klingt). Bei Schostakowitsch denkt man schließlich daran zurück, wie an die Flöte im Kopfsatz, es wirkt im Nachhinein wie eine Vorahnung.

Wenn Schuberts Fünfte trotzdem Aufwärts-Musik ist, zumal im ersten und vierten Satz, dann ist Schostakowitschs 15. Symphonie Abwärts-Musik hoch zehn. Sie ist klassisch viersätzig, aber dieses Gerüst ist ein Skelett. Der erste Satz, der mit Glöckchen und Flöte beginnt, ist selbst für Schostakowitschs Verhältnisse ein koboldhaftes Feuerwerk von Sarkasmen, nicht erst mit dem bizarren Hereintröten von Rossinis Wilhelm Tell-Ouvertüre. Nach all dem spaßigen Grauen, den gehetzten einsamen Fiedeln und Pfeifen inmitten des Fanfarenschnarrens und Marschierens ist der Konzertgänger im Grunde erledigt.

Dabei folgt nun erst der zweite Satz, mit dem verglichen das Lied von der Erde ein heiteres Frühlingsständchen ist. Ein schwarzer Bläserchoral tritt im Wechsel zum klagenden Cello in gequält hoher Lage. Später „kommunizieren“ die Flöten mit Posaune und Tuba. Die Streicher verirren sich in Momente von Zwölftönigkeit. Tausend Formen des Stillstands, trotz eines kurzen Tutti, das auch bloß ins Grauen führt; am Ende kommt ein morbides Ticken dazu, ein gruseliger Dur-Akkord, Klingklang von Celesta und Marimbaphon, ein letztes Posaunenkeuchen.

Featured imageNach dem dritten Satz, in dem Fiedel und Klarinette sogar den Totentanz auf der Stelle treten lassen, beginnt der vierte Satz mit der Todesverkündigung aus der Walküre. Die Klangfarben changieren zwischen Pechschwarz, Rabenschwarz und Schwarz-wie-die-Nacht, bis zum zappendusteren Schlusstänzchen von Trommeln, Triangel, Glockenspiel, Xylophon, Kastagnetten: Knochenklappern und Totenglöckchen, vielleicht auch eine Herz-Lungen-Maschine, wie angesichts von Schostakowitschs Krankheit vermutet wurde. Wie Totenglöckchen klingen auch die bimmelnden Handys aus dem Publikum, vom Todesröcheln zwischen den Sätzen zu schweigen. Minimal Music auf Sowjetisch! Aber das ist kein Einwand, sondern Bewunderung für Schostakowitschs manisch reduziertes Spätwerk. Diese Musik ist ja die Bilanz eines grauenvollen halben Jahrhunderts, Stalin in der Erinnerung, Herz-Lungen-Lähmung in der Gegenwart: folgerichtig, dass da auch die Musik zum Gerippe wird, an dem nur noch alle möglichen Fetzen hängen.

Seltsamer, fast geschmackloser Nebeneffekt: Dass die Musik so zerfetzt ist, gibt vielen Philharmonikern Gelegenheit, solistisch zu brillieren. Virtuosen von der Tuba bis zur Piccoloflöte! Der Philharmonikerglanz ist für diese Schwärze einmal gut verwendet. Haitink am Pult entfaltet die schwarze Landschaft souverän.

Auf dem Heimweg radelt der Konzertgänger am Landwehrkanal heim, nur für den Fall, dass einige unbedarft in dieses Konzert geratene Touristen sich ins Wasser gestürzt haben. Eine laue Sommernacht, keine Wasserleichen zu sehen, es sind wohl alle noch etwas trinken gegangen.

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9. Mai 2015 – Brillant: Bartók, Schostakowitsch und Ravel mit Mariss Jansons, Frank Peter Zimmermann und den Berliner Philharmonikern

Philharmonikerkonzerte machen den Konzertgänger manchmal ratlos: das brillanteste Orchester mit dem törichtsten Publikum. Da gibt es Abonnenten, die den Erasmusstudenten anpflaumen, weil er die Reihe von der falschen Seite aus betritt; feine Herren, die in der Pause schwadronieren, so einen Durchblick wie Helmut Schmidt werde Angela Merkel nie haben und Muslime hätten keine Kultur; eine alte Dame, die bei einem Stück von Lachenmann einen verächtlichen Lachkrampf bekommt; kollektives Husten, wenn mal Anton Webern gespielt wird.

Dabei machen die Philharmoniker es ihrem Publikum meistens nicht schwer, so ungewöhnliche oder riskante Programme wie beim DSO oder RSB gibt es selten. Auch heute Abend fragt der Konzertgänger sich zunächst nach dem Zusammenhang zwischen Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, Schostakowitschs 2. Violinkonzert und Ravels Daphnis und Chloé-Suite. Vielleicht nur der, dass es drei brillante Stücke sind, auch wenn eins einen spröden Titel hat und eins extrem depressiv klingt. Natürlich ausverkauft, zumal einer der besten Dirigenten der Welt, Mariss Jansons, und einer der besten Geiger, Frank Peter Zimmermann, zu Gast sind.

Bela Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta ist, wenig originell, der Lieblingsbartók des Konzertgängers; dieses eigenartige Stück ist ja mittlerweile ein Klassiker, trotz des (zurückhaltend gesagt) sachlichen Titels, Bartók war kein Marketinggenie. Der 1. Satz mit ihrer schreitenden, anschwellenden Fuge, die sich nach silbrigem Celesta-Regen umkehrt, wieder leiser wird und verschwindet, ist ein Wunder an Einfachheit. Den fast unhörbar leisen Anfang bekommen in Berlin nur die Philharmoniker so perfekt hin; trotzdem wird dieses Mirakel verhustet. Der 3. Satz, das Adagio, beginnt mit geheimnisvoll freischwebenden Xylophonschlägen auf demselben Ton und bizarren Paukenglissandi, die hier überraschend klar, fast trocken klingen; umso ätherischer dann die extrem fragilen Flageolettklänge, das Sprudeln und Perlen der Celesta, sie sich erst mit dem Klavier, dann der Harfe verbindet; und umso heftiger der große Ausbruch in der Mitte des Satzes. Der 4. Satz, in dem es heftig fetzt und bumpert, besorgt den Rest, das Publikum bricht in Jubelstürme aus. Der Husten hat längst nachgelassen; so gesehen ist die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta eins der wenigen unmittelbar überzeugenden Werke des 20. Jahrhunderts, ein Stück, auf das sich Ewiggestrige und Ewigmorgige einigen können.

Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 2 cis-Dur gehört zum völlig verdüsterten Spätwerk, am grausigsten sind die Lichtblicke, etwa die abgerissenen fröhlichen Momente im 1. Satz. Aus dem grellen Sarkasmus des frühen Schostakowitsch (die Trompeten) ist hier depressiver Sarkasmus geworden (das Horn). Bei einem Pizzicato-Piccolo-Triumphlied spielt die Geige nur einen Ton, verzweifelt verzagt. Überhaupt spielt die Geige im ganzen Stück gefühlt nur 3 bis 4 Töne in ständigen Wiederholungen, es klingt, als hätte sie maximal 2 Saiten, ein depressives Tatü-Tata. Dabei ist äußerlich alles ganz klassisch mit Dreisätzigkeit, Kadenz und allem Pipapo. Das Finale in Rondoform hat burleske Züge und bietet dem Interpreten Gelegenheit, in der ausgedehnten Solokadenz zu brillieren – über welches andere ernstzunehmende Stück im 20. Jahrhundert könnte im Programmheft ein solcher, selbst fast schon burlesker Satz stehen? Auch diese extrem reduzierte Verzweiflungsmusik mit ihren unverständlichen Zitaten löst ekstatischen Jubel aus. Sehr befremdlich. Sicher gilt die Begeisterung dem großartigen Geiger Frank Peter Zimmermann. Nach dieser jenseitslosen Musik ist man für die obligatorische Bachzugabe mehr als dankbar. Zimmermann hat sich allerdings zunächst gegen eine Zugabe gesträubt, wurde aber durch Applaus und Aufforderung des Konzertmeisters quasi gezwungen.

Allerdings macht dieser Trost den Kontrast zwischen Schostakowitschs Fahlheit und dem überreichen Farbenreichtum von Maurice Ravels Daphnis und Chloé-Suite Nr. 2 zunichte. Vielleicht ist das aber auch gut so. Ravels am größten besetztes Orchesterwerk, das Jansons auswendig dirigiert, ist ein Glanzstück wie Bruckners Achte oder Strauss‘ Alpensymphonie. Es beginnt ebenfalls mit dem Sonnenaufgang – ein sechsminütiges Tageserwachen, viel suggestiver als Strauss, aber ebenfalls sehr pompös. Jeder Solist darf mal brillieren, allen voran die Soloflöte im 2. Satz. Der 3. Satz, der Schlusstanz im 5/4-Takt, ist auch ohne den stöhnenden Chor, den Ravel im Originalballett verlangt, eine ekstatische Klangorgie. Begeisternde Showmusik; trotzdem gut, dass Ravel danach andere Wege eingeschlagen hat.

Das Philharmonikerkonzert ist an dieser Stelle zu Ende. Morgen wird das gleiche Programm im Kino übertragen. Auf dem Heimweg radelt der Konzertgänger am nächtlichen Spreeufer vorbei, aus der Dunkelheit ist furchtbare Musik zu hören, aber das Klappern der Bierflaschen erinnert an das Xylophon am Anfang des Bartók-Adagio.

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