Kältebarmend

Premiere „Die Sache Makropulos“ von Leoš Janáček an der Staatsoper Unter den Linden

Obacht, bevor du die Unsterblichkeit anschaust!

Was für eine Vision: als altgewordener Mann die Geliebte von vor fünfzig Jahren wiederzutreffen, und sie ist genauso jung wie damals, während man selbst am Abend seines Lebens steht. So ergeht es einer Nebenfigur namens Hauk-Šendorf in Leoš Janáčeks „Sache Makropulos“: Tenorbuffo, was die Schwerstmut der Angelegenheit ins Ulkig-Bizarre dreht, dazu spanische Rhythmen, Kastagnetten etc pp. Denn die Geliebte hieß Eugenia Montez, damals war’s, in Spanien … Aber wie fühlt sich das aus der anderen Perspektive an – aus Sicht der Ewigjungen, die den gealterten Liebhaber wiedertreffen muss?

Eine der vielen faszinierenden aus mehreren Perspektiven faszinierenden Situationen in dieser Oper, die einen zuverlässig überwältigt, auch wenn man die Handlungsfeinheiten erst nach der circa dreißigsten Vorstellung kapiert. Denn der Auslöser, ein verzwickter juristischer Erbschafts-Kasus, ist schwer zu durchblicken. Die zugrundeliegende, offenbar eher mittelmäßige Theatersatire von Karel Čapek (dem Schriftsteller, der das Wort „Roboter“ erfand) färbte Janáček in ein sondergleichen existenzielles Drama um, ein genialisches Missverständnis, über das Čapek verwundert den Kopf schüttelte. Die Komik ist aber zum Teil geblieben: Hauk-Šendorf etwa will sofort die Juwelen seiner Ehefrau versetzen, die so alt ist wie er, um mit der aspikierten E.M. durchzubrennen, als könnte er so vor dem Tod davonlaufen.

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Schattendinglich: „Die Sache Makropulos“ an der Deutschen Oper

E.M. on the isle of the living

Drei, zwei, eins – keins, nevermore, nie wieder: Wiederaufnahme der Sache Makropulos von Leoš Janáček an der Deutschen Oper Berlin, noch zwei Vorstellungen gibts bis zur Derniere am 22. November. Dreieinhalb Jahre waren das seit der Premiere, ein Hundertstel der Zeitspanne, die diese Oper umspannt: ein packendes Werk über das Entsetzen der Unsterblichkeit oder, denk pink, übers Glück der Sterblichkeit.

Eigentlich aber dürfte man, bevor man reingeht, gar nichts wissen über die Handlung von Věc Makropulos. Das findet jedenfalls Michael Füting in seiner kleinen Biographie von Leoš Janáček (Transit-Verlag). Denn diese Oper von 1926 ist ja ein Thriller, der erst am Ende aufgelöst wird. Nur dass wir Heutigen, bevor wir ins Opernmuseum gehen, mittels Opernführer oder Wikipedia eigenmächtig Surprise durch Suspense ersetzen, um mit Hitchcock zu sprechen. Ob man am Ende alles durchblicken würde, wenn man sich das Stück ganz unvorbereitet anschaute?  Man sollte schon ausgeschlafen sein, denn die Personenkonstellation ist verwickelt. Einen Versuch wärs aber wert, wenn man das Stück nicht kennt. In dem Fall hier nicht weiterlesen, sondern eine Karte kaufen, ohne die Inhaltsangabe zu lesen. Wer dagegen bis zum Schluss des Krimis vorblättern will (denn die Auflösung besteht in der Vorgeschichte): bitte sehr.

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28.2.1016 – Kosmisches Doppel: Makropulos-Symphonie und Die Sache Turangalîla

Olivier Messiaen und Leoš Janáček – kein ästhetisches Band verbindet diese beiden Komponisten, sondern einzig das organisatorische Ungeschick des Konzertgängers, der mit Schrecken feststellt, dass er am Sonntag Termine um 16 Uhr im Konzerthaus und um 18 Uhr in der Deutschen Oper hat.

Von Messiaen in Mitte…

Die U2 fährt im 5-Minuten-Takt und braucht von Stadtmitte bis Deutsche Oper 16 Minuten. Aber auch das würde nichts nützen, gäbe es nicht im Konzerthaus diesmal nur ein einziges Werk, lang zwar, dafür ohne zeitraubende Pause: Olivier Messiaens wahrhaft monumentale Turangalîla-Symphonie (1946-49), zum Abschluss des Frankreich-Festivals, einer Woche mit nervigem PR-Sprech (oh la la, Savoir vivre am Gendarmenmarkt), dafür um so aufregenderer Musik von Couperin bis Mantovani.

Und einem kleinen Messiaen-Schwerpunkt: Eine Woche nach dem jenseitssüchtigen Quatuor pour la fin du Temps feiert das kosmische Diesseits in der Turangalîla-Symphonie, dem intensivsten Jubelschrei der Musikgeschichte, heftige Auferstehung. Iván Fischer lässt das Konzerthausorchester diesen durchgeknallt optimistischen Lebenshymnus mit packendem Enthusiasmus spielen. Der Spannungsbogen hält über 85 Minuten: von den Tristan-Inseln in den Chants d’amour über die fetzige Joie du sang des étoiles (dem Gesang des Sternenblutes, der klingt wie 20 Bigbands auf Speed oder einer noch unbekannten Substanz) und den vom Hörer innig ersehnten ruhigen Jardin du sommeil d’amour (dem Garten des Liebesschlafs, dessen Klangbild an Palestrinas verschollene Hawaii-Kompositionen gemahnt) bis zum großen Finale mit Urknall-Schlussakkord.

An wie vielen Turangalîla-Aufführungen mag Valérie Hartmann-Claverie, die die Ondes Martenot spielt, schon teilgenommen haben? Als einzige auf dem Podium musiziert sie auswendig. Der Pianist Roger Muraro hat einige Kadenzen zu spielen, die virtuoser sind als in so manchem Klavierkonzert. – Zum Konzert

… zu Janáček nach Charlottenburg

Vom kosmischen Schwung der Turangalîla-Symphonie beflügelt, dauert die U-Bahn-Fahrt nach Charlottenburg nur gefühlte 16 Sekunden. Dort wartet bereits die Frau des Konzertgängers, die bekennender Janáček- und Runnicles-Groupie ist.

Geradezu kosmische Kräfte entfacht auch der dramatische Genius von Leoš Janáček. Wenn Janáček ein kauziger mährischer Halbgott ist, dann ist Donald Runnicles sein spleeniger schottischer Halbprophet: ein sachlicher, aber umso überzeugenderer Anwalt dieses großartigen Komponisten, bereits in der herrlichen Jenůfa. Das Vorspiel der Sache Makropulos (1925/26) geht er mit einigen Volt mehr an als etwa die Wiener Philharmoniker in der schönen Mackerras-Aufnahme, die ganze Oper in einem Tempo, dass die Hörner sich im Finale auch mal überschlagen; trotzdem kein Kontrollverlust, eine packende Orchesterleistung. Runnicles hat das Orchester der Deutschen Oper derart auf Vordermann gebracht, dass es immer wieder die reine Freude ist.

Das Makropulos-Motiv erinnert den Konzertgänger umstandsbedingt an Messiaens absteigenden Akkorde-Leitfaden; erst recht wenn es sich am Ende des 2. Aktes härtet und stählt, als Emma Marty den armen Janek ins Unglück stürzt. Auch zwischen Messiaens indischen und Janáčeks mährischen Tabulaturen tun sich plötzlich Zusammenhänge auf: Aus winzigen Zellen entstehen gewaltige Wirbel. Wie Janáček seine kleinen Motive verzahnt, entwickelt einen ungeheuren Sog, die Musik scheint sich von Insel zu Insel zu bewegen, jedes Eiland besteht nur aus 3 bis 4 Tönen… und  wie diese Musik dennoch oder gerade deshalb ans Herz geht!

Die Hauptfigur Emilia Marty ist eine Art weiblicher fliegender Holländer, ruhelos seit 337 Jahren; allerdings kein Seemann, sondern eine gefeierte Sängerin, die zunächst in einer Anwaltskanzlei auftaucht. Man würde sich auch nicht wundern, wenn Franz Kafka hereinspazierte, denn die Handlung nimmt von einem seit 100 Jahren laufenden undurchschaubaren Prozess ihren Ausgang.

Die Konversation der Protagonisten spiegelt sich in den Geistern der Vergangenheit. Die Regie von David Hermann (der bereits 2012 Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern auf die Bühne der DO brachte, in einer sehr zugänglichen Inszenierung, über die der Komponist hörbar die Nase rümpfte) ist manchmal etwas aufdringlich, etwa wenn zur Illustration eines erwähnten Selbstmords eine Pistole knallt und ein Statist tot umfällt oder wenn am Ende dem Publikum vorgehalten wird: EM = me. Aber insgesamt recht ordentlich, der wichtigste Einfall überzeugt: Emilia Marty überschreitet als einzige die unsichtbare Linie zwischen den Zeiten und wird begleitet von ihren eigenen Gespenstern, die da heißen Eileen MacGregor, Eugenia Montez, Ekaterina Myschkina, Elsa Müller… und eben Elina Makropoulos, Tochter des griechischen Alchemisten, der Kaiser Rudolf II. das ewige Leben schenken sollte, aber nur seiner eigenen Tochter endlose Wanderschaft bescherte.

Evelyn Herlitzius mag nicht so kalt wirken wie anno dunnemal Anja Silja, aber sie begeistert und bewegt in ihrer Darstellung der verzweifelten Frau, deren Fähigkeiten in Liebe und Kunst sich im Lauf der Jahrhunderte vervollkommnet, aber das Entscheidende verloren haben: die Seele. Herlitzius‘ dramatischer Sopran kann schneidend scharf klingen, aber auch ungeheuer seelenvoll, wie es sich bei Janáček, einem der großen Künstler des Mitleids, gehört – in der Verzweiflung regt sich ja eben doch die tote Seele. Gnadenlose Schärfe und rührende Weichheit verbinden sich beeindruckend im Pater hemon, dem griechischen Vaterunser, das EM im Finale kurz vor Ultimo anstimmt. 

Die anderen Sänger wirken durchweg überzeugend, idiomatisch sehr gekonnt, so weit man das als Sprachunkundiger beurteilen kann. Seth Carico als Anwalt und Derek Welton als Baron stechen hervor, Ladislav Elgr klingt als Albert Gregor etwas gepresst, was zur gehetzten Figur passt, sehr eindringlich; als Idiot Hauk-Sendorf tritt der alte Wagner-Recke Robert Gambill auf.

Eine weitere Janáček-Sternstunde an der Deutschen Oper. In der nächsten Saison ist leider gar kein Janáček angekündigt. Die Sache Makropulos gibt es noch zweimal im April, man sollte hingehen, um mehr Janáček in unserer schönen Musikhauptstadt zu erzwingen!

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