Was für ein interessanter, vielseitiger Dirigent ist Vladimir Jurowski.
Am Samstag dirigiert er das Rundfunk-Sinfonieorchester, dessen Chef er im Sommer wird, mit einem Programm von (auf den ersten Blick) gediegener tschechisch-deutsch-russisch-schweizerischer Moderne. Am Sonntag das ensemble unitedberlin, dessen Artistic Advisor er seit 2015 ist, mit einem Programm von (auf den ersten Blick) schwieriger, ja mörderischer italienischer Avantgarde.
Beides im Konzerthaus.
Am Samstag beim Rundfunk-Sinfonieorchester …
Drei zumindest in Deutschland, zumindest in der Breite ihrer Œuvres vernachlässigte Künstler stehen beim RSB auf dem Programm: Martinů, Hindemith, Rachmaninow. Drei Werke aus den 30er Jahren, eines Exil-Tschechen, eines Exil-Deutschen, eines Exil-Russen, in der Schweiz komponiert.
In der Musik von Bohuslav Martinů, der in einem Kirchturm geboren wurde, meint der Konzertgänger oft tanzende Glocken, tickende Turmuhren, aus tiefer Ferne heraufscheinende Orgeln zu hören. Verblüffend, ja erschreckend dissonant dagegen das Doppelkonzert für 2 Streichorchester, Klavier und Pauken (1938). Doch so motorisch der Kopfsatz voranhetzt, strahlt vom relativ breiten Strich der Geigen, Bratschen und Celli doch eine gewisse Wärme in die Schärfe. Miteinander konzertieren dürfen vor allem die beiden Streichorchester, feurig, beeindruckend kompakt. Dazwischen und vis-à-vis dem Dirigenten befinden sich Pauke und Klavier, die in gewissen Momenten hervortreten: die Pauke (Arndt Wahlich) mit wenigen, dafür umso heftigeren Knalleffekten, das Klavier (Helen Collyer) im zweiten Satz mit spröder, schmerzlicher Melodik.
Martinů komponierte das Doppelkonzert für Paul Sachers Basler Kammerorchester, wie Bartók seine noch extravaganter besetzte Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. Ähnlich streng im Gestus, klingt Martinů viel aggressiver. Wäre interessant, beides mal in einem Konzert zu hören.
Stattdessen Paul Hindemith. Der Klangeffekt der interessanten Koppelung verpufft ein wenig durch die ausufernde Umbaupause auf dem Podium. Das Konzert für Violine und Orchester (1939) tönt für Hindemiths Verhältnisse verblüffend unspröde, ja erschreckend kantabel. Es hat die lyrischen, stillen Momente, die Martinů (bewusst) vorenthält. Und auch konzertantes Flair, wenn die Holzbläser reihum hervortreten: klanglich eindrucksvoll die Bassklarinette (Christoph Korn), am schönsten die Klarinette (Michael Kern).
Über allem schwebt natürlich die Geige von Arabella Steinbacher. Dass die auch eine Augenweide ist (edles Antlitz, schulterfreies blaues Kleid, halbhoch geschlitzt), darf man hoffentlich erwähnen, wenn man gleich hinzufügt, dass sie vor allem eine Ohrenweide ist: bezaubernd klarer, heller Ton, technisch virtuos. Fast zu schön! Gut, dass sie im Finale den Bogen auch juchzen und rutschen lassen kann.
Zugabe: Obsession aus der Solosonate Nr.2 von Eugène Ysaÿe. (Danke an Arabella Steinbacher für die Auskunft.)
Das Hindemith-Finale könnte wahrscheinlich auch ziemlich bumperig klingen, aber Vladimir Jurowski lässt es famos-seltsam swingen. Er beeindruckt durch Pathos und Präzision, zu der er das Orchester führt, aber auch durch die mannigfaltigen Gesten seiner Linken, Ausdruckstanz mit einer Hand: Handfläche oben, Handfläche unten, angewinkelt, hervorschießend, zurückziehend, zeichnend, kreisend …
Den zweiten Satz von Sergej Rachmaninows 3. Sinfonie a-Moll op. 44 leitet er mit weit ausgestreckter Linker ein, als würde er ein Kreuz in die Luft schlagen. Ein Wundermoment, dazu den weichen Satzbeginn von Harfe und Horn zu hören, bevor der ganze Orchester-Organismus zu atmen und zu singen beginnt; solistisch hervorleuchtend die erste Geige (Erez Ofer) und die Flöte (Ulf-Dieter Schaaff).
Dennoch ist die Dritte reich an wunderschönen Inseln, aber sie singt sich kaum so aus, wie man es von Rachmaninows früheren, berühmteren Werken gewohnt ist. Das fällt erst recht im Kontrast mit der zuvor gespielten Orchesterfassung von Rachmaninows Vocalise auf, einem fiesen Schmachtfetzen zwischen Bach-Air und Morricone, in dem statt einer menschlichen Stimme zwanzig (!) Geigen singen, inbrünstig und schwermütig und alle auf der linken Seite, so dass man fürchtet, dass das Podium gleich kippt.
Doch gerade dieser „Mangel“ macht die Dritte so aufregend. Der erste Satz ist melodisch in dem Sinne, dass er den Grundton (als wäre es aus dem Einstimmen gekommen) umkreist, umseufzt, umspringt. So entsteht Einheitlichkeit, während krasse Kontraste in Gefühlslage und Dynamik die Musik zu zerreißen drohen: warm, brillant, berauschend, fahl, aufbrausend, komisch. All das bündelt das RSB unter Jurowskis Leitung zu großer, sehnsüchtiger Musik.
Hat je wer über Rachmaninow gelästert? Was für ein interessanter, vielseitiger Komponist.
… am Sonntag beim ensemble unitedberlin
Neuer Musik in kleiner Besetzung widmet sich Jurowski am Sonntag mit dem ensemble unitedberlin. Der Werner-Otto-Saal ist der heimliche Lieblingsraum des Konzertgängers im farben- und schnörkelfrohen Konzerthaus: eine geheimnisvolle schwarzviolette Dachkammer für Klangfarben anderer Art.
Italienisches Liederbuch heißt das Programm, das vier zeitgenössische Kompositionen vorstellt, die sich auf vier vokale Referenzgrößen berufen: den Madrigalkomponisten (und Mörder) Carlo Gesualdo, Monteverdis Orfeo, Mozart und einen Orpheus des 20. Jahrhunderts, Jim Morrison. Keine verkopfte, sondern ohrenschmeichelnde Musik ist das.
Im Zuge der Arbeit an einer Gesualdo-Oper (aus der dann Luci mie traditrici entstand, letzten Sommer in der Staatsoper zu hören) komponierte Salvatore Sciarrino 1998 seine Gesualdo-Überschreibungen Le voci sottovetro, Stimmen unter Glas. Die Stimme der Sopranistin Alexandra Lubchansky erklingt leider nicht unter Glas, sondern in mehreren Kompositionen dieses Abends überdeutlich aus zwei Lautsprechern. Schmerzhaft, denn die bei Sciarrino so wichtigen physischen Eigenheiten und Nebengeräusche der Stimme verschwinden hinter der elektronischen Aufpimpung.
Nicht nur deshalb wirkt der Abend, trotz hoher Qualität aller Beteiligten, ein wenig unausgegoren. Silvia Cosolantis 2007 komponiertes Ahi! Vista troppo dolce et troppo amara (Orfeo nel buio) ist ein energiegeladenes, theatralisches, aber auch plakativ wirkendes Stück. Nach einem Riesenknall entschwindet Eurydikes Schattenstimme in Gestalt der hinter den Hörern postierten Bassklarinette.
Raffinierter scheint Still (1985) von Franco Donatoni (1917-2000), in dem serialistische Koloraturen (!) über einer sechsstimmigen Begleitung erklingen, die klingt wie von Conlon Nancarrow gestanzt. Das muss man mal hinkriegen, hier präzise auszuzählen und einzusetzen!
Still dauert nur 5 Minuten, und die Dauern tragen auch dazu bei, dass der Funke nicht recht überspringt. Insgesamt 50 Minuten Musik würden ohne Pause mehr Flow entwickeln. Eine gute Viertelstunde dauert die zweite Programmhälfte: Fausto Romitellis Lost auf Gedichte von Jim Morrison (1997). Abwechslungsreiche, vielfarbige, ja psychedelische Musik – gerade als man sich bereit macht, allmählich in Trance zu versinken, ist das Konzert schon vorbei.
Aber eine Freude, dass Jurowski sich solcher Musik und solchen Besetzungen widmet. Mal sehen, was sich da noch entwickelt. Mit dem ensemble unitedberlin ist Jurowski wieder am 19. Februar und 27. März zu erleben.
Weil das viel Text war, zum Schluss noch etwas zum Hören und Schauen. Vladimir Jurowski for something completely different, historische Aufführungspraxis kann dieser interessante, vielseitige Dirigent auch:
Weitere Kritik zum RSB-Konzert im Tagesspiegel
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