Schmutzglänzend

Premiere von Glucks „Orfeo ed Euridice“ an der Komischen Oper

Vom ganzen Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele schrieb Kleist in einem Brief (woraus doitsche Philologen früher Schmerz machten, weil in doitscher Klassikerseele bekanntlich Schmerz sein darf, aber kein Schmutz). Den ganzen Schmutz und Glanz der orphischen Seele und der orphisch-euridicischen Liebe kehrt die neue Inszenierung von Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice an der Komischen Oper hervor, eine würdige Nachfolgerin der legendären k+k-Fassung (Kupfer + Kowalski) an diesem Haus. Aus schwarzen Müllhülltüten werden sich hier unter dem herz- und schmutzerweichenden placatevi con me des sängerischen Zentralgestirns Carlo Vistoli hospitalisierte Glanzseelen herausschälen, zupfen, reißen.

Dass es ums Glück des nur scheinbar altbekannten Ehepaars Orpheus und Eurydike schon von Beginn an nicht zum Besten steht, zeigt das Regieteam um Damiano Michieletto (der hier vor Jahren Massenets Cendrillon wunderschön inszenierte) gleich zu Beginn in einer eindringlichen Miniatur. So aseptisch ist die Eheküche, dass sie sich spielend leicht in das totale Krankenhaus verwandeln kann, in das die Frau nach verzweifelter Suizidtat gelangt. Wo dem tapperten Mann erst klar wird, was er da zu verlieren droht. Glucks Höhlengegend am Ufer des Flusses Kokytos wird hier zum Tunnelblick des Verlorenen mit finsterem Fluchtpunkt. Und die Furien, mit denen Orfeo es dann singend aufnimmt, ähneln ein wenig den Verhüllungen im Squid Game, nur sind sie nicht rot, sondern von nacktem Schwarz – die nicht endenden Mülltüten des Krankenhausbetriebs. Die Oboe erklingt solistisch, während Vistolis Orfeo seine Arie anstimmt, und da zerreißen nach und nach die dunklen Hüllen und werden zu Menschen. Aus gutem Grund sind wir ungläubig geworden gegenüber der Vorstellung, Musik bessere die Menschenseele; und doch erleben wir es an uns selbst, immer wieder. Wenn wir Musik hörend unsere eigene, innere Euridice wiederzufinden meinen, den von uns selbst immer wieder zerstörten Glanz unserer Seele.

Die Kunst des Countertenors Carlo Vistoli in der Hauptrolle macht’s möglich. Hochartifiziellen Operngesang als „natürlich“ zu loben, wäre ein abstruses Unding. Aber neben aller technischen Raffinesse klingt Vistoli eben auch ganz unverstellt expressiv, und das ist sehr, sehr rührend. Feucht und früchtig nennt Intendant Barrie Kosky in seiner nicht zu kurzen Nachpremierenrede auf der Bühne Vistolis Stimme, und das ist so hübsch, dass man es zitieren muss. Aber vor allem ist enorm, wie Vistolis Orfeo nicht nur mit Tönen, sondern auch mit Blicken und Bewegungen seinen Unglauben und seine Angst herzeigt, den Schmutz seiner Seele. Vor zwei Monaten war Vistoli im Galakonzert des Concert d’Astrée bei den Barocktagen der Staatsoper Unter den Linden mit Händel-Arien glanzvoll zu hören. Jetzt hat die Komische Oper einen wirklichen sängerischen und darstellerischen Stern gefischt. Selbst meine Begleiterin, eingeschworene Jochen-Kowalski-Groupie, ist durchaus zufrieden.

Nadja Mchantaf gehört zum Haus. Als Euridice darf sie erst ab der Mitte mitsingen (dafür hat sie drei tanzende Doubles), und sie tut das mit einer Stimme voller Leidenschaft, die viel neunzehntes Opernjahrhundert ins Ottocento mitbringt. Das sonst immer irritierende sofortige Misstrauen aber, das die zum Leben erweckte Euridice ihrem Gatten entgegenbringt, gewinnt hier durch die Anfangsszene der totalen Eheaporie ungewohnte Plausibilität. Es ist das Gift des Zweifels, im schönen Schein des Neubeginns nur dem alten Unglücksbringer wiederbegegnet zu sein.

Als Debütantin steht die junge Josefine Mindus vom hauseigenen Opernstudio als Amore auf der Bühne, und sie macht ihre Sache auch ausgezeichnet. Das Orchester ist höhergelegt, was akustisch sehr guttut. Einige szenetypische Wuschelköpfe aus etwelchen Alte-Musik-Gruppen meint man im Orchester zu sehen, ohne sie zuordnen zu können. Jedenfalls befleißigt man sich hier auch Barockhörnern, Barocktrompeten, Barockpauken und Barockzinken. Und auch wenn das Orchester unter dem Dirigenten David Bates nicht immer die ganz feine Barockfeder führt, sondern recht handfest klingt, trägt es zuverlässig durch den Abend. Von einer gewissen Grundbehäbigkeit ist Glucks Musik ja eh, seien wir ehrlich. Über die Qualität des Chors ist man regelrecht verblüfft (auch wenn der Chor an der Komischen Oper oft besser klingt als nebenan an der Staatsoper). Dann sieht man, dass hier an diesem Abend ja der stets vorzügliche Vocalconsort Berlin zum Einsatz kommt.

Das arge lieto fine von Glucks Orfeo ed Euridice (hoppla, er bekommt sie entgegen dem Mythos doch zurück, was einen menschlich natürlich freut, aber niemals überzeugt) wird in Damianos Inszenierung auf die schärfste Kippe geführt – und dann eben doch nicht billig-gefällig als bloße Einbildung verworfen, wie es für eine zeitgemäße Regie naheliegt. Hier geht es verblüffend komisch und zugleich absolut albtraumhaft zu. Kaltes Wasser platscht vom Himmel, und eine Tote trägt ihre eigene Urne. Alles in allem ist das eine todtraurige und doch vollendet beglückende Version dieser Oper. Und wem bei Carlo Vistolis Che farò senza Euridice nicht seine FFP2-Maske mit Tränen und Rotz durchnässt (Glanz und Schmutz seiner Operngängerseele), dem war auf Erden nicht zu helfen.

Zu Orfeo ed Euridice

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