Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko spielen Zimmermann, Lutosławski, Brahms
Beim gerade stattgefundenen Ultraschall-Festival für neue Musik fragte ich mich, welches der dort gehörten Orchesterstücke wohl in einem „normalen“ Sinfoniekonzert anginge (und fand im Eröffnungskonzert ziemlich viel). Anlässlich des aktuellen Berliner Philharmoniker-Konzerts weist Malte Krasting zurecht darauf hin, dass ein vor 50 Jahren teils gemobbter Komponist wie Bernd Alois Zimmermann heute viel mehr gespielt wird als etwa der Avantgarde-Bully Stockhausen. Und man könnte ergänzen, dass auch mehr Menschen Zimmermann hören wollen, oder zumindest zu hören bereit sind. Photoptosis von 1968, mit dem Kirill Petrenko und die Philharmoniker beginnen, ist ein klarer Fall von Hören-Wollen.
Ein unverwüstlich direkter, rauschhafter Klangstrudel. Der „Lichteinfall“ (Photoptosis) entwickelt sich eher zum Lichttsunami, und in den Photophluten strömt dann später halb verschluckt was von Mahler, was von Wagner etc pp. Selbst dass über diese Collagetechnik das Rad der Zeit etwas hinübergegangen sein mag, stört nicht, weil es so kunstfertig ist. Belustigt liest man, dass Zimmermanns Arbeit ein Auftragswerk der ehrenwerten Sparkasse Gelsenkirchen war. Die ganze Avantgarde der 1950er und 60er Jahre hat ja aus heutiger Sicht auch schon was von BRD noir. Aber Zimmermann lässt die Fensterscheiben der westdeutschen Stadtsparkassen zerspringen.
Die in den 1940ern entstandene 1. Sinfonie von Witold Lutosławski (über den irgendein Typ mal einen nicht uninteressanten Einführungsartikel im VAN Magazin geschrieben hat) ist hörbar ein Frühwerk. Viersätzig gar, zumindest ohne offizielle Tonart. Der erste Satz erinnert ein wenig an Strawinskys neoklassizistische Sinfonien, klingt dabei aber wärmer, der zweite ruft in seinem Konzertieren Assoziationen an späten Bartók hervor. Im dritten herrscht erheblicher Witz (wenn die Klarinette von Wenzel Fuchs mit der Celesta von – schnell nachschlagen: Heike Gneiting). Sehr motorisch das Finale, und überhaupt ist die ganze Aufführung dieser Sinfonie unter Petrenko von fast scharfer Präzision. Vielleicht betont sie eher das Artistische als das von Lutosławski erwähnte „Heitere“. Aber staunenswert ist’s eh.
Während Konzerte mit Kirill Petrenko anfangs ratzfatz ausverkauft waren, klaffen jetzt doch erhebliche Lücken im Publikum. An Zimmermann und Lutosławski wird’s nicht liegen, am Chef und den Philharmonikern schon gar nicht, eher an dieser Sache mit dem Virus, von der Sie eventuell gehört haben. Im Gegensatz zu den beiden Rundfunk-Orchestern, die ich zuletzt besuchte und wo jeweils 10 bis 15 Musiker Masken trugen, zeigen bei den Philharmonikern alle Musiker Mund und Nase. Corporate identity, oder sind die eh alle privatversichert, wie böse Lungen Zungen mutmaßen könnten? Wie dem auch sei – schön, dass Kultur gerade stattfindet, während man zuletzt in Bayern Theater und Konzerte fast komplett über die Klinge springen ließ – anders als legaliter proppenvolle, testfreie und naturgemäß unmaskierte Wirtshäuser. Hätten im Söderland die Kultureinrichtungen dem Publikum das Essen erlaubt, hätten sie sich als gastronomische Einrichtungen deklarieren und gleich vollbesetzen können. Nun ja, das ist Bayern. Hic Berlin, hic salta. Aber nicht Fanta! Denn das gastronomische Angebot im Pausenfoyer der Philharmonie ist auf Wasser beschränkt. Aber das ist schon in Ordnung, die Masken sollen eben aufbleiben, nur elendiglich verdursten soll am Ende auch keiner.
Unter normalen Umständen müsste ja (und wird irgendwann wieder) ein berlinerphilharmonischer Brahms vom Chef ausreichen, die Bude bis in den letzten Winkel zu füllen. Mit der Aufführung der 2. Sinfonie D-Dur, die hier hellen Jubel auslöst, hadere ich ein wenig. Wunderschön ist das ja, wie weich die Hörner da hineingleiten. Und dann geht es recht schnell voran, vor allem aber zart, nahezu luftig, federnd. „Durchhörbar“ nennt man sowas gern, selbst in den Klangballungen ist das so, wo es in anderen Aufführungen gelegentlich schon etwas verdickt. Aber wo manche im Kopfsatz „Abgründe“ oder wenigstens deren Andeutungen wittern, ist hier eher ein leichtes Changieren im Flusse. Und die Gefahr besteht schon, dass es ein bisschen ins Geleckte abgleitet, sprechen wir’s aus: ins Harmlose. Gar eine einzige Abfolge schöner Stellen.
Andererseits, wer mag sich darüber beschweren in so hässlicher Zeit? Über den vollendet zarten Ton des Allegretto grazioso? Oder über die perfekt proportionierten Wirbel des Finales? Auch wenn, ja wenn man’s sich am Ende, doch, ein bissl hymnischer vorstellen könnte. Jedenfalls, ganz weit weg sind bei diesem fast eingängigen Brahms alle Gelsenkirchner Sparkassentsunamis. Und vielleicht brauchen wir gerade jetzt wirklich gerade das, gerade so.
Nachtrag: Weitere Kritiken – Gewagt bis steil scheint Badelts Vermutung im Tagesspiegel, Petrenko seien die hohen Tempi im Brahms quasi aus Versehen passiert. Schlatz analysiert Petrenkos Brahms plausibler und mit viel Sympathie.
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Fand den Brahms durchaus ansprechend, vor allem nachdem ich befürchtet hatte, eine dieser ordentlichen, ehrenwerten, und, wenn man hohe Maßstäbe anlegt, etwas enttäuschenden Interpretationen zu hören, wie man sie von bspw immer wieder von Järvi zu hören bekommt (besonders bei 19. Jahrhundert). Jubelnd applaudiert wird in der Philharmonie ja heutzutage ständig, wenn es das Stück zulässt.