Wiederaufnahme „Oceane“ an der Deutschen Oper

Wenn Sie die Uraufführung des Jahres von 1853 sehen wollen, müssen Sie nicht unbedingt in die nächste Vorstellung rennen; ebensowenig, wenn die Uraufführung des Jahres von 1865 Sie interessiert. Bei der Uraufführung des Jahres 2019 könnte das schon anders aussehen. Denn La Traviata und Tristan und Isolde wird es auch in Zukunft ständig und überall geben. Aber Detlev Glanerts Oceane, die im Januar insgesamt dreimal an der Deutschen Oper Berlin gespielt wird, nicht unbedingt. Wobei man sagen muss, dass die erste dieser drei Vorstellungen (insgesamt die sechste seit der Premiere 2019) überraschend gutbesucht war.

So dass es vielleicht doch noch eine Berliner Zukunft für diese schöne Produktion geben wird?

Etwas rückwärtsgewandt könnte die Unternehmung ja scheinen, diese Oper nach einer Novellenskizze von Theodor Fontane, für die der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel das Libretto besorgt hat. Jedenfalls habe diese vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert faszinierende Melusine-Sache (die Fontane im „Stechlin“ subtiler verarbeitete als im liegengelassenen Entwurf) in den letzten hundert Jahren rapide sinkende Konjunktur erfahren, behauptet Wikipedia. Für Nixen im allgemeinen Sinn gilt das allerdings kaum, von Arielle bis zum Schwimmkurs-mit-Seejungfrau-Flosse bei den Berliner Bäderbetrieben. Wobei das natürlich schon eher Richtung „domestizierte Hexen“ à la Bibi & Tina geht. Fontane-Treichel-Glanerts Nixe ist hingegen ausgesprochen undomestiziert: die Frau aus dem Wasser, die in die Menschenwelt gerät, sehnsüchtig nach menschlichen Gefühlen, aber nicht gefühlsfähig. Als die wahren Gefühlsmonster stellen sich dann jedoch die Menschen heraus, nicht die nasskalte Schöne.

Damit scheint mir bei der Wiederbegegnung Glanerts Oceane (die ich zur Uraufführung durchaus gern, aber nicht frei von Zweifeln hörte) viel plausibler als damals. Als Minus schien mir damals das allzu Gegenwartsferne, das Unzwingende, der gewisse Müssensmangel: Was hat uns das heute zu sagen? Jetzt geht es mir anders mit dem Thema: das Nichtgeltenlassen eines „Menschen“, der fremd ist unter den Menschen, grundsätzlich anders. Keine Tränen, kein Gebet, keine Liebe hat die Hauptfigur Oceane von Parceval und wird darum von den Menschen im Ostseebad als Weltbühne verstoßen, vorneweg der protestantische Pfarrer als Diktator des Zwangs zur Empathie (Albert Pesendorfer). Das ist ja furchtbarstes neunzehntes Jahrhundert, dieser patriarchalische Wunsch, die „frigide Frau“ zu einer empfindsamen umzudressieren. Fontane aber (der diese sehr eigene Tochter Martha hatte) dachte human genug, als dass er seiner Menschenweltfremden namens Oceane die Heimkehr mit heiler Schuppenhaut in die Wasserwelt gönnte. Der Mann hingegen, der Oceane zu lieben gewillt war (eindringlich dargestellt vom Tenor Nikolai Schukoff), bleibt unglücklich zurück.

Die Pluspunkte, gerade gegenüber anderen Berliner Opern-Uraufführungen der letzten Jahre, bestätigen sich auch beim Wiedersehen: Da ist die schlichte Tatsache, dass Glanert einen Stoff ausgesucht hat, der nicht nur Sinn ergibt, sondern auch für die Riesenbühne geeignet ist. (Daran mangelte es meines Erachtens etwa bei der viel zu innerorganischen Heart Chamber von Chaya Czernowin, die ja eine großartige Komponistin ist.) Auch die Regie von Robert Carsen bietet spektakuläre Meeresweite statt inszenatorischem Kleinklein; die Pracht ihrer tausend Grautöne ist stupend. Die Handlung ist ohne Umwege über Programmheftlesen, Exposéstudium und Theoriepauke zugänglich. Überhaupt, es gibt eine Handlung. Und eine Pause! Das hat auch Seltenheitswert bei Uraufführungen.

Und vor allem ist da die Zugänglichkeit der dennoch nicht billigen oder blöden Musik. Es gibt rauschende Meeresharfen und sogar Windmaschinen und jede Menge turbulente Chöre (Einstudierung Jeremy Bines). Es gibt französische Konversation (die Mezzosopranistin Doris Soffel als Madame Louise in der stärksten Nebenrolle). Es gibt Ballrhythmen, es gibt sogar echte klassische Bühnenmusik. Und hochdramatische Sopranverzweiflung im Glitzerkleid vor wogendem Meer, überhaupt große Szenen und effektvolle Konfrontationen! Jacquelin Wagner als Oceane ist eine Wucht in Sachen Intervalle und Intensität, technisch sprungsicher, emotional sturzgewiss. Überhaupt ist diese Oper sängerisch eine Freude, lauter anspruchsvolle Rollen, wahrscheinlich schwer, aber zugleich dankbar in ihrer Wirkungskraft.

Eine weitere Wucht ist die des Orchesters. Wand und Wind. Das klingt alles hervorragend eingeübt von Stephan Zilias, dem GMD der Oper Hannover, und hoch engagiert (was an der Deutschen Oper leider nicht selbstverständlich ist). Die Intimität zwischen den Liebenwollenden liegt in dieser Musik ebenso wie die silberne Kälte der Hauptfigur, die die Sehnsucht nach der Liebe kennt, aber keine Liebe.

Zweimal noch, am 11. und 13. Januar

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