Für die ersten Berliner Konzerte nach ein paar Monaten im Rheinland (mehr dazu hier) gilt es, unbedingt auf sichere Banken und Bänke zu setzen! Neben einer sehr schönen Mahler-Dritten mit Iván Fischer kürzlich im Konzerthaus ist das etwa der originelle Klavier-Altmeister Alexei Lubimov. Er tritt zusammen mit der Sopranistin Viktoriia Vitrenko im Pianosalon Christophori auf, oben im Wedding. Lubimov, Jahrgang 1944, kommt noch aus der großen russischen Pianistentradition (Schule von Heinrich Neuhaus), hat sich aber ziemlich untypisch für diese schon vor langer Zeit der avantgardistischen Musik und mehr noch der Wunderwelt der historischen Instrumente zugewandt. Im VAN Magazin erschien vor einigen Jahren ein sehr interessantes Interview mit diesem besonderen Musiker.
Im Salon Christophori, der eine Werkhalle voller alter Klaviere ist, hat Alexei Lubimov sich vorab einen Feurich-Flügel von 1910 ausgesucht, eine vor der Verschrottung rettende Neuerwerbung des Hauses, dessen Betreiber über diese Wahl fast ein wenig erstaunt wirkt. Einigermaßen störrisch zu temperieren scheint der Feurich auch, wenn man die Angespanntheit des Klavierstimmers recht interpretiert, der bis zum allerletzten Moment Ruhe im Saal einfordernd lauscht, schraubt und justiert. Und auch wenn das Instrument sich nicht als wahres Klangwunder herausstellen soll, so nimmt seine Vitalität ein, das im Vergleich zu jedem modernen Steinway wunderbar Unausgeglichene, auch das kreaturhaft Animalische des Basses, so in den Tonrepetitionen des ersten der vier Impromptus D 899 von Franz Schubert, die Arpeggi und pulsierenden Akkorde in den Mittelteilen des zweiten bzw vierten. Und in Lubimovs agogisch atmendem Spiel ist jeder Ton erfüllt.
Zwischen den Impromptus begleitet Lubimov höchst aufmerksam die Sopranistin Viktoriia Vitrenko in einer Reihe von Schubertliedern nach Goethe, die Mignon-Lieder, Gretchen am Spinnrade. Vitrenkos Gesang nimmt schon dadurch ein, dass wirklich jede Silbe genauestens verständlich ist, ohne dass es Innigkeit und Klangschönheit Abbruch täte.
Schubert ist immer ein Anliegen, aber das noch dringendere Anliegen des Konzerts ist an diesem Abend sein zweiter Teil. Die Sängerin Vitrenko ist Ukrainerin, der Komponist Valentin Silvestrov ist ebenfalls Ukrainer, 85 Jahre alt, im Frühjahr vor den russischen Invasionstruppen aus Kiew geflüchtet und heute Abend persönlich im Pianosalon anwesend. Ein bekannter Komponist war Silvestrov vorher schon, aber auf den Anlass seiner späten Weltkarriere hätte er gewiss gern verzichtet. Gerade wird überall Silvestrov gespielt, aus dem naheliegenden Wunsch, ukrainische Musik aufzuführen. Als Lubimov das im April in Moskau tat, und zwar in eindeutiger Stellungnahme gegen den Angriffskrieg seines Heimatlandes Russland, da führte ihn die Polizei von der Bühne.
Den Vokalzyklus Stufen aus den 1970er Jahren, der in Moskau auf dem Programm stand, gibt es nun auch im Pianosalon. Auch ohne dass man die Sprache verstünde, hat man den Eindruck, zu verstehen: So klar ist Vitrenkos Diktion, so klar sind auch Silvestrovs gleichermaßen eingängige wie emotional und tonal zugängliche Kompositionen. Aufs erste Hören klingen sie wie von der Jahrhundertwende (womit nicht die vom 20. zum 21. gemeint ist). Einige einführende Worte zum Zyklus, etwa dem Charakter der zugrundeliegenden Texte von Puschkin, Mandelstam, Blok u.a., hätten dennoch nicht geschadet. Doch das durchgehend elegische Wesen dieser Lieder wird auch so deutlich, ihre erlesene Nächtlichkeit, die einschmeichelnde Einfachheit der melodischen Linien voller stets gedämpfter Aufschwünge. Achtsam trägt Lubimovs Klavierspiel die Sängerin. Ob man den Zyklus auf die längere Dauer kontemplativ oder doch ein wenig ereignisarm findet, ist gewiss auch eine Frage der Hörertemperaments. Aber berühren muss dieses Konzert jeden. Erst recht, wenn die Sängerin Viktoria Vitrenko in der Zugabe (ist das ein von Silvestrov gesetztes ukrainisches Volkslied? oder etwas anderes?) erkennbar mit den Tränen kämpft.
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