Südrosig: Wiener Philharmoniker mit Welser-Möst spielen Brahms

Sympathischer Trigger, das Zitat des Wiener Philharmoniker-Gründers Otto Nicolai ins Programmheft zu drucken, demzufolge im Wiener einfach mehr musikalisches Blut sei als im Berliner, der Süden halt mehr Talent habe. Der Halbsatz davor verleiht dem Satz freilich den Ruch des Obskuren: In Berlin ist wohl mehr Ordnung… So ändern sich die Zeiten. Aber ganz unmusikalisch sind die südlichen Philharmoniker dennoch nicht geworden. Das beweist auch ihr rosiges Johannes Brahms-Programm mit Franz Welser-Möst. Es läutet das Abschlusswochenende der Wiener-Hommage im Konzerthaus am Gendarmenmarkt ein.

Der Wien-Besuch bringt also zwei Auftritte berühmter, aber in Berlin recht seltener Dirigenten mit sich. Bei Welser-Möst hat’s in zwei Minuten einen größeren Aktionsradius und höheren Kalorienverbrauch als beim relaxten Riccardo Muti am Dienstag in zwei Stunden; zumindest dirigierkörperlich, nicht unbedingt musikalisch. Dennoch ist Welser-Möst kein Vorturner, die Haltung stets tadellos. Was den  sicheren Sitz der Frisuren angeht, nehmen sich Muti und Welser-Möst nichts. Welser-Möst eröffnet breitarmig wie der Keeper beim Elfmeter (ohne handkesche Angst); seine Fensterwischtechnik mit der Linken wirkt gelegentlich leicht blasiert, aber in solchen gestischen Dingen de gustibus non est zankendum.

Die Aufführung von Brahms‘ Doppelkonzert für Violine und Cello a-Moll op. 102 (1887) beweist nicht nur, dass die Wiener die beiden Solopartien völlig problemlos aus den eigenen Reihen besetzen können, sondern vielmehr, dass dies erhebliche Vorzüge hat. Zugegeben, dass der Geiger Volkhard Steude und der Cellist Peter Somodari nicht gerade wie Janine Jansen und Sol Gabetta aussehen. Eine leichte Befangenheit, plötzlich als Solisten im Mittelpunkt des eigenen Kollektivs zu stehen, kann man höchstens sehen, aber nicht hören. Das gemeinsame Musizieren ist kammermusikalisch, ja kollegial. Das ist völlig ein Herz, eine Seele, ein Ton. Auch wenn Somodari vibriert, bis der Finger bricht, dients nie der Selbstprofilierung, sondern stets dem gemeinsamen Sinfonieren. Der erste Satz klingt energisch ohne Mätzchen, d.h. beschwingt. Wenn sie im Oktavabstand gemeinsam singen, im wärmenden D-Dur des zweiten Satzes, klingen die beiden wie ein Instrument; der Mittelteil ist ein Wunder an orchestraler Leuchtkraft. Das Schluss-Vivace ist von direktem musikalischen Schwung, ohne allzu sehr die Sau rauszulassen: No sex please, we’re Viennese. Beziehungsweise Brahms.

Eine leicht angezogene Handbremsigkeit des Musikgenusses geht wohl weniger auf Mängel der Ausführung zurück als halt auf Brahms‘ Komposition, der doch eine gewisse Herbheit eignet (auch wenn man nicht mit Billroth von einer trostlosen Greisenkomposition sprechen mag). Die virtuose Breite ihres musikalischen Könnens und, mehr noch, ihrer Musizierlust zeigen Steude und Somodari dann in der effektvollen Zugabe, der von Johan Halvorsen gepimpten Passacaglia aus Händels 7. Suite g-Moll.

Brahms‘ 2. Sinfonie D-Dur opus 73 von 1877 tönt dann nah am Paradies, was Schönheit und Gleichgewicht des Klangs angeht. Steude und Somodari sind wieder als Teil des Kollektivs on board. Eine unbrahmssche Harfe verweist bereits auf allfällige Zugaben. Doch zuvor verursacht jeder Hörnereinsatz Glücksschauer, die nuancenreichen Steigerungen und Farbveränderungen sind eine ebensolche Lust wie der warme Klang der tiefen Streicher im zweiten Satz. Und überhaupt. Die Interpretation ist den Bedingungen des Großen Konzerthaus-Saals entschieden sensibler angepasst als Mutis stellenweise extrem lauter Bruckner.

Wo liegt nun die spezielle Interpretation dieses Brahms? Das Gewebe des Ganzen ganz hörbar zu machen und zugleich wunderschön klingen zu lassen, ist ja nicht wenig. Man kann auf Verschlankung verzichten, ohne fett zu wirken. It’s the Feinjustierung in der Reichhaltigkeit, stupid! Aber fehlen nicht doch die Anflüge von Schroffheit, die Schatten, die Melancholie und der Trauerrand, von denen Brahms sprach? Die Abgründe unter der sonnigen Fläche des Wörthersees? Vielleicht. Aber wenn man so nah am Paradies ist, vergeht einem alle Lust aufs Mäkeln.

Harfe, Beckenschläge und großer Wiener Pipapo dann in den erwartet schmissigen Zugaben: Zuerst Strauß des Jüngeren Rosen aus dem Süden. Allein die Sorge trübt den Genuss, das Konzerthauspublikum könnte der Stadt die Blamage antun und sich zum Mitklatschen hinreißen lassen; aber man hält an sich. Es gibt also doch noch Ordnung in Berlin! Die zweite Zugabe wollte der Konzertgänger schon als die berühmte Tröten-Polka von Johann-Gustav Strauß dem Cousin identifizieren; aber der kundige Kollege Urmoneit von Bachtrack.com teilt noch mit, dass es sich um Bahn frei von Eduard Strauß-jüngerer Bruder handelte.

Weitere Kritik: Schlatz im ersten Teil erfüllter als im zweiten. Krieger versöhnt. Tewinkel hört seltene Exzellenz.

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6 Gedanken zu „Südrosig: Wiener Philharmoniker mit Welser-Möst spielen Brahms

  1. Es macht Vergnügen, Ihre Kritik zu lesen. Danke. Und sehr schön der Satz: „…..Die Abgründe unter der sonnigen Fläche des Wörthersees? Vielleicht. Aber wenn man so nah am Paradies ist, vergeht einem alle Lust aufs Mäkeln.“ Vielleicht müssten Kritiker öfters mal so denken. Ich wünsche Ihnen noch frohe fröhliche Festtage aus Portugal!

  2. Lieber Herr Selge,
    lieben Dank! So kundig war ich auch nicht! Ich habe mir die Zugaben vom Orchsterwart diktieren lassen.
    Schöne Weihnachten!
    Ihr,
    Sebastian Urmoneit

  3. Man ist so berechenbar. Ich war mir vorher recht sicher, dass Welser-Möst mir mit der 2. nicht zusagt. Und prompt kommt es auch so. Eigentlich deprimierend. Ich habe Welser-Möst in Berlin schon gehört, weiß nur nicht mehr mit was. „seine Fensterwischtechnik mit der Linken wirkt gelegentlich leicht blasiert“, gut gesagt. Ich war ganz fasziniert davon.

    • Mir gefiel die 2. neulich mit Paavo Järvi bei den Berlinern, obwohl manche es zu emotionslos fanden. Welser-Möst war mal mit Cleveland beim Musikfest, oder? Und sonst? Bei den Berliner Philharmonikern ewig nicht, oder vergesse ich was?

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