Für den Weltklasse-Orchester-Freund in Berlin ist bereits zwischen drittem und viertem Advent Bescherungsbrimborium: Dienstag und Freitag die Wiener Philharmoniker im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, Donnerstag die Berliner Philharmoniker in ihrem eigenen Haus. Ein herzensvolles Konzert, Iván Fischer dirigiert, Christian Gerhaher singt: auf dem Gabentisch liegen Dvořák, Lieder von Hugo Wolf und Schuberts große C-Dur-Sinfonie.
Die Legenden op. 59 von Antonín Dvořák scheinen mit zwei Stück gerade richtig dosiert: Nummer 6 in cis-Moll und Nummer 10 in b-Moll, die letzte. Sie alle zu hören, würde vielleicht Überdruss bereiten. Denn im Herzen dieser Musik scheint heute Abend ein Praliné zu liegen, man kann auch eins dazu lutschen. Der Schmelz der Orchestergruppen ist köstlich und zart. Warum Legenden? Dass die fein fließenden Stücke sagenhafte Epen oder Dramen evozierten, kann man nicht behaupten.
Was ein Kontrast, wie unmittelbar einen die Lieder von Hugo Wolf anspringen: wie ein ausgehungertes Raubtier den Ausdruck ins Herz beißt. Keine ziseligen, wiederholungsreichen Wortausdeutungen, sondern zack zur Sache. Einige wenige seiner Lieder hat Wolf selbst orchestriert, der norwegische Komponist Eivind Buene hat außerdem eine groß besetzte Orchesterfassung des Feuerreiters nach Mörike beigesteuert, mit dramatischem Hoppelgaloppel auf den Streichersaiten, klingeligem Feuerglöckleinspiel und fahl-geräuschlichem Gerippeklapper-Finale: Rasseln, Klappern, Streicherbogen am Blech etc. – Griff ins Küchengeräte-Arsenal, meint ein lieber Bekannter des Konzertgängers. Aber gelungen und hörenswert! Hugo Wolfs rare eigene Instrumentalisationen sind zurückhaltender, aber er konnte das schon: Marie-Pierre Langlamets Harfe natürlich tragend in den Harfenspieler-Liedern nach Goethe; in deren zweitem das Holz um die Türen mitschleicht und den Sänger aus dem Tritt geraten lässt, ehe er weitergeht, fort von den glücklicheren Menschen. Im Rattenfänger, ebenfalls nach Goethe, verpassen die Flöten einem scharfe Streiche.
Wenn Hugo Wolfs Musik das Punkrock des romantischen Kunstlieds ist, dann ist Christian Gerhaher der Aristokrat unter den Sex Pistols. Sein Gesang ist nicht distanziert; aber wenn er sich ungeschützt windet und darbietet, so niemals peinlich, sondern immer in Würde und Noblesse. Gesangstechnisch und textdeutlich natürlich vorbildlich, auch wenn Lied im Großen Saal heikel ist. Eine große Werbung fürs Lied im Allgemeinen und Hugo Wolf im Besonderen war bereits Gerhahers Liederabend im Kammermusiksaal vor zwei Wochen.
Für Franz Schuberts 8. Sinfonie C-Dur D 944 hat Iván Fischer die Berliner Philharmoniker durcheinandergewürfelt, aber keineswegs wahllos, sondern sehr bedacht: Die Holzbläser sind in die erste Reihe gezogen. So sitzen die Oboen vor den ersten Geigen mit Konzertmeister Stabrawa, die Flöten vor den Celli, die Fagotte vor den Bratschen und die Klarinetten vor den zweiten Geigen. Die Hörner aber sind ins Zentrum gerutscht, zwischen Bratschen und Celli. Und von dort, aus dem Herzen des Orchesters, lassen diese herrlichen Hörner den herrlichen Beginn der herrlichen Sinfonie tönen, es ist, als käme ihr Klang direkt aus dem Herz der Romantik.
Man könnte die Gewichte im Orchester wohl auch durch andere Maßnahmen verschieben: etwa indem man die Streicher reduzierte; aber der Große Saal würde dadurch nicht kleiner und intimer. Norrington verdoppelte mal bei einer Schumannsinfonie das Holz. Durchs Nachvornziehen des Holzes nun wird alles spielerischer und singender. Gelegentlich hat das was vielleicht bedenklich Sinfonia-concertante-Artiges. Das erste scheint gar zum Seiten-, das ländlerische zweite zum Hauptthema zu werden. Aber was sollen diese Kategorien schon bei Schubert?
Im wandernden Andante mit der ausgiebig singenden Oboe (Jonathan Kelly) macht die Umgruppierung naturgemäß noch mehr sense and sensibility. Ebenso berührend die wehmütigen Entgegnungen von Andreas Ottensamers Klarinette gegenüber. Die dramatischen Aufwallungen wirken durch die Verstreuung des Blechs (denn Trompeten und Posaunen sitzen hinter dem Orchester) noch dissoziativer, ehe sich alles in einen Schreckensklang zusammenballt. Zum Herzen des Orchesters werden dann die Celli, die nach der Katastrophe als erste wieder zu singen vulgo wandern wagen.
Iván Fischer, der vor einer Woche mit „seinem“ ehemaligen Konzerthausorchester eine bemerkenswerte Schubert-Vierte aufführte, lässt den Klang der Philharmoniker geschmeiden und blühen: innig ohne aufgesetzten Druck, frei im Herzen. Er hat diesen lustig schlaksigen Zappelstil, man fragt sich, wie chaotisch es wohl klänge, wenn er das virtuelle Orchester im Wiener Haus der Musik dirigierte. Aber die Berliner sind ja kein virtuelles, sondern ein menschliches, und bei einem menschlichen Orchester passts. Die Crescendi im Scherzo wedelt Fischer locker unter dem Manschettenknopf seines linken Handgelenks hervor.
Der Nachbar des Konzertgängers schaut zwischendurch immer wieder auf sein eigenes Handgelenk. Schon öfter bemerkt, das scheint so ein Abonnenten-Tick zu sein. Aber himmlische Längen misst man nicht mit irdischen Uhren! Im Finale wünscht man sich, diese Musik würde nie, nie aufhören.
Als Schubert 1825 die C-Dur-Sinfonie schrieb, die er selbst nie zu hören bekommen sollte, wäre Mozart 69 Jahre alt gewesen. Bei der durch Robert Schumann initiierten posthumen Uraufführung 1839 wäre Mozart 83 gewesen und Schubert 42.
Bilde Dir doch nicht ein, daß Du Weltklasse wärst, bloß weil Du in einer eingebildeten Metropole lebest.
(Kommentar verschoben nach https://hundert11.net/suedrosig/)