Konzertgänger auf Reisen: AGRIPPINA im Prinzregententheater

Dekadent, wer bei dieser herrlichen AGRIPPINA den Daumen senkt!

Nach drei Tagen Bayreuth unbedingt den kalten Entzug vermeiden! Darum macht der Konzertgänger noch einen Zwischenstopp in München, wo im Prinzip ja das ganze Jahr Opernfestspiele sind. Als Berliner schämt man sich hier immer etwas, da der Münchner auf natürlichere Weise vornehm zu sein versteht; in Berlin ist alles Feine vulgär. Nochmal ein anderes, krasseres Kaliber aber sind die vornehmen Römer, zumindest die von einst – mit anderen Worten: Händels frühes Meisterwerk AGRIPPINA im Prinzregententheater.

Was für ein schönes, nobles Haus. Ist doch massiver gebaut als die mythische Bayreuther Festspielscheune. In den Toiletten allerdings riechts hier, kaum zu glauben, strenger noch als an der Deutschen Oper Berlin.

Das skrupellose Treiben einer durchtriebenen Patrizier-Mutter, mit der eigentlich jeder hier es gern treiben würde, kann man als Zuschauer nur mit der höchsten Sympathie verfolgen. Sehr zurecht balgen sich die Luschen Pallante und Narciso um die Knie und Füße dieser Agrippina, deren Seelenschiff auf stürmischer See aber nur von dem Gedanken besessen ist, ihren Gatten Claudio vom Kaiserthron zu tricksen, um ihr Söhnchen aus erster Ehe daraufzusetzen, den allseits bekannten Nero (der, so doll trieben es die alten Römer, in der Realgeschichte seine Mutter Agrippina abmurksen ließ, als er dann Kaiser war). Groß ihre Freude, als die Falschnachricht kommt, ihr Ehemann sei ertrunken.

Wer andern einen Schiffbruch wünscht, stürzt selbst ins Meer.

Nerone ist eine von drei Counterstimmen in dieser Oper, Franco Fagioli singt ihn in den höchsten Lagen und mit den unkonventionellsten Vokalkapriolen von den dreien, fabelhaft debil, und bei aller Komik doch durchaus Sympathie für dieses böse Muttersöhnchen weckend. Der Ottone, ein kaiserlicher General und die Güte in Person (der darum auch nicht Kaiser wird, obwohl der Kaiser ihn immer wieder dazu machen will), hat besonders ergreifende Arien, etwa Voi che udite il mio lamento, und Iestyn Davis singt mit einem schönen weichen Herren-Alt. In dieser Lage gefällt auch Eric Jurenas als wirr-verliebter Höfling Narciso.

Tenöre ohne Counter hats hier nicht, dafür drei Bässe: Markus Suikhonen in der kleinen Rolle des Lesbo und Andrea Mastroni als zweiter Hofschranz Pallante, der Pong zum Ping Narciso. Gianluca Buratto ist ein beeindruckend leidenschaftlicher, stimmmächtiger Kaiser-Bass. Und wenn das etwas viel Namens-Aufzählung ist, dann muss sie sich hier damit rechtfertigen, dass das eine vierstündige krass gute Leistung ohne Ausfälle und Abstriche ist. Da hat der Berliner nüscht zu meckern. Da staunt er sogar.

Gekrönt wird das Ganze, wie es sich gehört, von zwei Frauen. Der jungen Poppea grollt Agrippina ganz zurecht, denn die technisch überragende Elsa Benoit droht ihr mit ihren akrobatischen Koloraturen und Sprüngen auf Highheels, bei denen man um Stimmbänder und Fußgelenke fürchtet, fast den Sud abzukochen.

Aber dass Agrippina bekommen wird, was sie will, daran lässt Alice Coote von Anfang an keinen Zweifel keimen. Im Schlussviertel legt sie dann nochmal zu und hat extensive Arien, die das Korsett dieser Form glatt zu sprengen drohen, etwa ihr Pensieri, voi mi tormentate, eigentlich eine ausgewachsene Verzweiflungsszene. Wie überhaupt diese Figur durch den ganzen dekadenten Kuddelmuddel in bemerkenswerte seelische Tiefen vordringt. Dass Coote keine reine Barockstimme ist, fällt einem schon zu Beginn des Abends auf, nicht ungut, aber doch auf; bis zur Carmen reicht ihr Spektrum, und in Pensieri scheint das manchmal ganz dicht. Was für eine Show von Frau Coote, Daumen hoch!

In diesem Schlussviertel legt Agrippina mit gewiefter Dramaturgie immer stärker zu, emotional und musikalisch, dass es auch den nur viertelkundigen Stippvisiteur ins Barockopernwesen abholt und mitnimmt. Dem hätte es im Lauf der vorhergehenden drei Stunden passieren können, dass ihm die ewige Abfolge der A-B-A-Arien auch mal auf den Senkel geht; wenngleich er jederzeit von Herzen konzediert: eine schöner als die andere! Aber wie’s hier in der vierten Stunde nochmal draufpackt, da möchte er ehrfürchtig die Perücke lüften vor Herrn Händel. Und vor dem Dirigenten Ivor Bolton und seinem Orchester, das „historisch informiert“ spielt, dabei zwar hörbar kein Originalklang-Ensemble ist (es rekrutiert sich aus dem Orchester der Bayerischen Staatsoper), aber auch mit eher breitem Strich die Sache prima macht. Und wenn Solo-Instrumente hervortreten, etwa die Oboe in Agrippinas Arien, spürt man die Weltklasse des BSO. Aufgepimpt ist es durch ein fünfköpfiges Continuo-Ensemble.

Und völlig sachgemäß ist auch Barrie Koskys Regie. Das ist ein ganz anderer Kosky, als der Konzertgänger ihn gerade mit den erschütternden, kontroversen Meistersingern in Bayreuth erlebt hat: geradezu bescheiden, aber doch von einem dramaturgischen Gespür und einem raffinierten Timing, das es in sich hat. Kommt einem das zentrale Bühnengerüst mit Lamellen-Jalousie anfangs noch wie ein etwas arg farbloses Einheitsbühnenbild vor, staunt man Bauklötze, wie sich das Ding schließlich in seine Bestandteile zerlegt und entfaltet, wie es auch das Drama Agrippina tut. Und wie es sich am Ende des ganzen Treibens wieder völlig verschließt, um die einsame durchtriebene Agrippina herum, was uns, fast überraschend, auch noch Tränen des Mitleids in die Augen treibt.

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