Kramsreif

Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, András Schiff spielen Brahms und Josef Suk

Von der Inspiration zum Repertoirewerk (Symbolbild)

Kirill Petrenko setzt bei den Philharmonikern seine Reihe Brahms plus Krams fort. Wobei mich vor allem der Krams reizt. Aber dem vorhergehenden 2. Klavierkonzert von Brahms mit András Schiff (ein Repertoire-Programmpunkt, der narrensicher für volles Haus auch für die folgende Ultra-Rarität sorgt) kann ich mehr abgewinnen als der zweiten Sinfonie im Januar, die mich nicht vollends überzeugte. Schiff ist hier natürlich eine Bank, auch wenn er so viel mehr gelehrt als instinktiv klingt. Vor kurzem brachte er eine der interessantesten Einspielungen der beiden Brahmskonzerte heraus, die es gibt, auf einem Blüthner gespielt.

Worauf er in der Philharmonie spielt, mag sogar ein altes Steinway-Modell sein (falls es kein Bechstein ist). Aber jedenfalls tönt es überhaupt nicht wie ein moderner Steinway, der die Sinfoniekonzertnorm bildet. Von dunklerem, erdigerem Klang ist dieses Instrument, perlt weniger; oder es sind dunklere Perlen. Die Spitzentöne stechen nüchterner, der Nachklang ist geringer, das verstärkt noch die Wirkung von Schiffs klarem, manchmal beinah spitzem Anschlag. Geschärfte Abwärtskaskaden im Kopfsatz statt Wogen und Rauschen.

Das Orchester, flott und rubatoarm und trotz Hörnerglanz (Stefan Dohr) kaum Dehnen und Sehnen sich erlaubend, lässt sich voll auf Schiffs Ton ein. Bemerkenswert schlank und geschmeidig ist das Klangbild für einen Brahms mit Berliner-Philharmoniker-Siegel, auch wenn von historischer Aufführungsdingsbums wie bei Schiffs Aufnahme mit dem Orchestra of the Age of Enlightement hier natürlich nicht die Rede sein kann. Das Klavier dominiert wie selten bei einer Aufführung dieses Brahmskonzerts, obwohl Schiff (überflüssig zu erwähnen) niemals lärmt. Im zweiten Satz beeindrucken die Unerbittlichkeit und fast plakative Kontraste. Im Trio stellt das Orchester Affektation und Gespreiztheit aus, was einen schönen Effekt ergibt mit der anfänglichen Koboldhaftigkeit des Klavierparts. Und bei aller Disziplin hier, im langsamen dritten Satz zittert dennoch hinreichend romantisch Bruno Delepelaires Cello, vor dessen schließlicher Wiederkehr zarte Streicher das träumende Klavier ganz zauberhaft tragen.

Dass keine Aufführung dieses Werks mich je mehr anfasst wie damals meine ersten Gilels- und Richter-Aufnahmen, dafür können nun weder Schiff noch Petrenko oder die Berliner Philharmoniker. Daran ist allein die Zeit schuld, die erbarmungslose. Schiffs kluge Spieldosenmelancholie im Finale ist aber auch nicht zu verachten. (Nur wie Schiff seine Zugabe, das Wiegenlied-Intermezzo Opus 117,1 Es-Dur, über-unsentimental abschnurren lässt, das gefällt mir überhaupt nicht. Seine pianistische Didaktik kann einen auch auf die Palme bringen.)

Die Zeit, die erbarmungslose, ist auch im zweiten Großwerk des Abends dabei. In dieses Opus geht nun wohl jeder im Saal bar aller persönlichen Hörgeschichte: Josef Suks Zráni (Lebensreife), uraufgeführt 1918 in Prag, von den Berliner Philharmonikern noch nie gespielt. Es ist eine Symphonische Dichtung, in der das musikalische Ich nicht an der erbarmungslosen Zeit zerbricht, sondern ganz im Gegenteil alles in Sieg des Jawohls zum Leben und in Versöhnung endet. Suk-zuck und doch in epischer Weite geht’s in vierzig Minuten von der unschuldigen Jugend über etwelche Prüfung in die finale Befriedung mit Engelsgesumm. Letzteres unsichtbar, die Damen des Rundfunkchors sind draußen vor der Tür. (Wie beliebt diese Vokalisen in jenen Jahren doch waren, Debussy und Vaughan Williams und Rachmaninoff und Janáček fallen mir auf Anhieb ein.) Aber ganz selbstverständlich erscheinen einem derlei schwellende Selbstlaute, nachdem einem immerhin sechs oberhalb des Orchesters platzierte Extra-Trompeten den Triumph geblasen haben.

Überhaupt ist die Bühne hier herrlich voll, zwei Harfen sind dabei, Celesta, satte fünf Schläger und Klöppler, etc pp. Das Stück beginnt in Himmelssphären, bevor nach und nach die tieferen Register hinzutreten. Auch später klingen immer wieder selige Glöcklein, doch dann wird’s wild bewegt. Ohrwürmer sind zwar nicht zu vermelden, auch über die Stringenz bin ich nicht sicher. Durchgehende thematische Substanz ist nicht leicht auszumachen; einmal wird lange, aber kurzweilig auf einem Dreitonmotiv herumgekaut. Und immer fiebert, sehnt und fließt man mit, ohne stets recht zu wissen, worum. Doch warum sehr wohl: viel Klanglust und harmonische Raffinesse, wüstes Spektakel mit Teufelstuba und diabolischem Fugato nebst hochromantischer Schönheit, erlesene Geigensoli von Noah Bendix-Balgley, Emotion, Anmut, Maßlosigkeit.

Kirill Petrenko hat schon einige Sachen von Josef Suk hierher gebracht, dem Schwiegersohn von Antonín Dvořák und Großvater des berühmten Geigers, der ebenfalls Josef Suk hieß – aber vor allem eigenwilliger, hochambitionierter Komponist. Das ist verdienstvoll, allein um hier mal zur Kenntnis zu nehmen, was jenseits unseres Tellerrands an sinfonischer Großarchitektur noch so existiert, jenseits von Mahler. Und einfach ein fettes Hörerlebnis. Brahms bleibt schon, aber die Zeit ist auch (wieder) lebensreif für solchen aufregenden Krams und für die Morphogenese unserer Repertoire-Erwartung.

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