Ziegträumend: Meyerbeers „Dinorah“ an der Deutschen Oper

Grand opéra und Opéra comique (v.r.n.l.)

Entzückende Musik zu entdecken: Bevor es am Wochenende zum Abschluss des Giacomo Meyerbeer-Schwerpunkts an der Deutschen Oper Berlin nochmal die beiden Wuchtbrummen Les Huguenots und Le Prophète setzt, gibt es eine wunderbar leichtfüßige konzertante Aufführung des ulkigen Spätwerks Dinorah ou Le Pardon de Ploërmel. Und in dieser „Wallfahrt nach Ploërmel“ ist ein völlig anderer Meyerbeer kennenzulernen. Ein kurioses Amalgam aus Pastorale und Spukmärchen ist dieses Spätwerk von 1859, mit ebenso kurioser zentraler Symbol-Ziege.

Die Handlung wirkt zunächst, als hätten der aus der Mark Brandenburg gebürtige European Maître der Grand Opéra und seine ausführenden Librettisten Barbier und Carré im dramatischen Entwurfe doch das eine oder andere Bockbier zuviel gezischt: Durch Blitzschlag vor der Hochzeit verwirrtes Bauernmädchen irrt mit Ziege durch die Welt, während ihr irrgeleiteter Bräutigam sich in einer bekloppten Schatzsuche verliert, usw usf.

Das wirkt zunächst selbst für Opernverhältnisse so nichtig, dass eine Inszenierung vielleicht wirklich nicht recht lohnte. Aber es konzertant zu hören zahlt sich aus, denn es ist die Kurzweil in persona. Und ein bisschen spielen die Darsteller bei sowas ja übrigens doch immer, ziemlich flink und witzig sogar. Gegeben wird hier die Urfassung als Opéra comique, das heißt mit gesprochenen Dialogen (später komponierte Meyerbeer Rezitative nach). Im Verlauf der drei Stunden entfaltet die Sache aber auch als Musikdrama zunehmenden Reiz: Statt des Meyerbeer-typischen Historientableaus ist das eben ein vergnügliches Genre-Experiment, ein abgeklärtes Alterswerk von unerschöpflichem melodischen Einfallsreichtum. War alles nur ein Traum, beschließen die Liebenden am Schluss, nachdem ihre Wahnverblendungen sich in einem erneuten Unwetter abgewaschen haben.

Mit dem Dirigenten Enrique Mazzola führt genau der Richtige die Orchesterziege am Strick. Bald hält er straff, bald lässt er locker; aber jederzeit spürt man, dass die Musiker richtig Bock haben auf diese Dinorah. Auf gespenstisch flatternde Streicherklänge. Auf den funkelnden Schmiss dieser Musik und die immerzu bimmelnden Zickenglöckchen. Auf die wohltönende Hirten- und Pilger- und Jagdhörnerwelt. Farbenreich ist das instrumentiert, man hört italienischen Schwung und spürt Tentakel, die Richtung Jacques Offenbach ausgreifen. Und stellt zufrieden fest, dass der alte Meyerbeer bei dem Meyerbeer-Dieb und Meyerbeer-Verleumder Wagner zurückgeklaut hat. Mit allem Recht der Welt! Der von Jeremy Bines vorzüglich einstudierte Opernchor macht das ganz deutlich mit seinen genau sitzenden hauchzarten Pilgertönen, die das Werk gewissermaßen einklammern.

Was sich sehr charakteristisch durchs ganze Werk zieht, ist ein uriger Pastoralsound mit warmen Bordun-Tönen und lebendigen Dudelsack-Effekten. Immer wieder hört man ganz direkt Beethovens Opus 68 heraus. Insofern ist die Figur des abergläubischen Dudelsäckers Corentin die autochthonste Figur der Dinorah-Welt. Der französische Tenor Philippe Talbot singt ihn in sehr kultivierter Folklorizität: In äußerst agiler Hasenfüßigkeit zittert er und zagt. Und schmettert sich vergeblich Mut zu, denn ach, der Bordunton des Lebens ist nun mal der Tod.

Diesen beschränkten Corentin versucht der irre Hoël, Dinorahs verlorener Bräutigam, für seine Zwecke einzuspannen. Der Bariton Régis Mengus überzeugt in dieser Rolle, sowohl als komödiantischer Schatzsuch-Tropf als auch mit der edlen Gaumenträne des Liebenden, der schlussendlich erkennt, dass eine treue Frau doch die wertvollste Kiste der Welt ist. In der Titelrolle aber gefällt die junge spanische Sopranistin Rocio Perez. Als Darstellerin ist sie so witzig wie sexy, und ihre Koloraturen sitzen alle am rechten Fleck. Perez schmollt und schmachtet, spinnt und sehnt derart, dass man sie einfach lieben muss. Köstlich, wie sie zunächst mit innigen Berceuse-Tönen an ihre im Schlummer wiedergefundene Ziege Bellah auftritt. Im Encore-Duett mit Corentin umschmeicheln die Stimme von Perez und die Klarinette des Orchesters einander. Lustig zu lesen, dass Perez gelernte Klarinettistin ist. Und die artistische, facettenreiche Schatten-Arie im zweiten Akt ist ein echter Knaller!

Ein großes Vergnügen also. Eine weitere Aufführung der Dinorah gibt es am kommenden Samstag, dem 7. März. Dazwischen stehen letzte Aufführungen der großen Meyerbeer-Opern Prophet am Freitag (Notizen dazu folgen) und der Hugenotten am Sonntag. Der Prophet wird wie Dinorah von Enrique Mazzola dirigiert, der zweifellos die Fachkraft der Wahl für Meyerbeer ist. Bei den fesselnden Hugenotten, die ich bereits Anfang Februar besuchte, machte das Orchester unter Dirigent Alexander Vedernikov einen nicht ganz so bestechenden Eindruck. Aber sängerisch stark besetzt und sowieso kennenswert ist diese vielleicht berühmteste Meyerbeer-Oper über die Katastrophen des religiösen Fanatismus allemal.

Warum man unbedingt Meyerbeer hören sollte, kann man auch beim Experten Thomas Kliche nachlesen. Außerdem: Dinorah-Kritik bei Schlatz, der überhaupt fleißig Meyerbeer besucht hat diese Tage.

Zum Meyerbeer-Spezial der Deutschen Oper

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2 Gedanken zu „Ziegträumend: Meyerbeers „Dinorah“ an der Deutschen Oper

    • Und Scribe hatte es abgelehnt, das Libretto zu schreiben, weil er meinte, Meyerbeer sei „für ernstere Aufgaben“ bestimmt. M’s Zusammenarbeit mit Jules Barbier und Michel Carré empfand er trotzdem als Treuebruch. Doch bei „Vasco da Gama“ arbeiteten sie wieder zusammen.

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