Merkwürdiger Fall eines Konzerts, an dem eigentlich nichts schlecht ist, aber sich der Funke nicht finden will, der das Ganze entzündet. Und wenn der fehlt, kann einem Hector Berlioz‘ Roméo et Juliette ganz schön lang werden. Selbst wenn das Deutsche Symphonie-Orchester unter seinem Chefdirigenten Robin Ticciati spielt. Liegts an den Musikern? Vielleicht am Hörer? Oder gar an … Berlioz?
Dabei ist das ja schon optisch eine Freude mit den dekadenten vier Harfen und dem massiven Blech auf dem Podium der Philharmonie. Und Roméo et Juliette von 1839 ist ein faszinierendes hypertrophes Dingsbums, ein bisschen das französische Gegenstück zur Neunten: Während es bei Beethoven die Instrumentalsinfonie in den Wortschwall sehnzieht, ziehsehnt sich die Oper bei Berlioz ins Sinfonische. Symphonie dramatique heißt das dann, für Soli, Chor und Orchester, eigentlich sogar für zwei Chöre; und da besteht immer die Gefahr, dass das Sinfonische dem Dramatischen die Sehnen zieht. Und umgekehrt.
Aber Robin Ticciati spannt die Sehnen seiner Hand über dem Klang. Überhaupt hat sein Dirigieren etwas Angespanntes, das manchmal unfrei wirkt, er zieht die Schultern hoch, lässt bei Steigerungen demonstrativ die linke Hand tremolieren. Das wäre nun an sich noch kein Einwand. Und das auch optisch überspannte Element könnte gerade zu Berlioz sogar ganz gut passen. Leider gibt es wohl keine Rückenansichten des Maître; aber nach den Vorderansichten kann man sich gut vorstellen, dass man bei ihm durch den Frack die Wirbelsäule sah, wie man es auch bei Ticciati meint. Und theatralische Übertreibung wäre vielleicht gerade nicht die Gefahr bei Roméo et Juliette.
Aber das Sinnliche. Horcht man in jeden einzelnen Moment hinein, so klingt jede einzelne Farbmischung gekonnt und genau richtig. Das funktioniert insgesamt noch am besten im entzückenden Scherzo La Reine Mab, der klingelingelingigen Traumfee-Zauberwelt. Aber in den anderen Orchesterstücken, vor allem der Liebesszene, hat der Klang etwas so Ausbuchstabiertes, dass er einfach nicht ins Fließen kommen will. Und wenn nichts fließt und jedes einzeln bleibt, ist das Erotische futsch.
Es sind ja doch auch einige weniger sinfonische Theaterpassagen in diesem Stück, die dann halt ein bisschen vor sich hin theaterpassieren. Aber wenn man sich als Hörer fragt, ob man Berlioz vielleicht doch nicht so toll findet, dann ist Alarmstufe Kobaltblau.
Der von Daniel Reuss einstudierte Rundfunkchor Berlin steht mit seiner Tiefe und Subtilität manchmal in einem seltsamen Gegensatz zur teils oberflächlich scheinenden Pinselei des Orchesterklangs, etwa im Convoi funèbre de Juliette, wo die simplen Orchesterlinien auch schlicht zu laut wirken. Für sich ist die Leistung des Rundfunkchors wieder mal famos. Schon wie sich in der Introduction die Stimmen spreizen, wenn der Lärm verstummt (tout bruit expire), ist reines Hörglück. Und großes Kino das unartig Turba-Artige in den Hassgesängen des Finalbeginns und der schließlich folgende Seelen- durch Chorfarbwandel.
Die Solistenbesetzung ist solide, ohne zu begeistern. Der Tenor Paul Appleby scherzettiert ja sowieso nur kurz. Die Mezzosopranistin Julie Boulianne hat eine sehr schöne Stimme, neigt aber zum Knödeln. Die wichtigste Rolle, den Bass des Pater Lorenzo im Finale, hört man sehr gern. Die Stimme von Alastair Miles hat nicht (mehr?) die ganz große Strahlkraft, aber transportiert Emotionalität und Erschütterung auf so schnörkellose Weise, dass man ihr alles glaubt und erschüttert mitfühlt.
Robin Ticciati aber, der umjubelte und offenbar von den Musikern geliebte Chefdirigent des DSO, bleibt dem Konzertgänger vorerst ein Rätsel. Nicht im polemischen Sinn, sondern als wirkliches Enigma. Ticciati ist ja kein selbstverliebter Blender, wie sie unter gewissen Weltdirigierstars vorkommen mögen. Man möchte ihn so gern lieben. Er ist grundsympathisch, ansteckend enthusiastisch, hochmusikalisch sowieso. Wieso funkt es nicht? Liegt es an dieser sehnenziehenden, wirbelsäuligen Unfreiheit? Oder ist vielleicht bloß das eigene Ohr für Ticciati vernagelt, selbst unfrei und verkrampft?
Vorsatz: Ticciati ein bis zweimal im Jahr anhören, um zu verfolgen, wie sich sein Musizieren entwickelt. Oder eben, wie das eigene Gehör und Geherz darauf reagiert. (Nächste Gelegenheit wäre schon in einer Woche: Beethoven mit Geige, Rachmaninow ohne Klavier und George Benjamin mit großem Orchester.)
Ich finde Ticciati bislang ganz gut. Mir gefällt, dass er von der Oper kommt. Das tut auch Bruckner gut. Ich kann mir vorstellen, dass sein Brahmszyklus im Februar ganz gut wird. Sokhiev fand ich meist ausgewogener, sicherer, solider, klassischer, aber auch weniger spannend.
Ich habe mit diesem Stück auch immer meine Schwierigkeit, obwohl ich Berlioz mittlerweile sehr mag.
Hatte auch bei der Waltz Aufführung so einige Schwierigkeiten, nicht mit den Sängern und dem Orchester, wohl aber mit einigen Musikpassagen. Einiges ist einfach zu ausgedehnt und kommt nicht auf den Punkt…
Hängt wahrscheinlich vom Zuschauer ab, ob einem die Waltz-Hopserei an der Deutschen Oper mögliche Roméo-et-Juliette-Längen lindert oder verschärft. Mir hats damals gefallen. War mit meinem Sohn da, der das Tanzen sehr mochte. „Roméo et Juliette“ gefällt mir an sich, die Aufführung mit Marek Janowski und dem RSB vor einigen Jahren fand ich knackig. Sokhiev hat es vor gar nicht langer Zeit ebenfalls beim DSO gemacht, das habe ich leider verpasst.
Echt? Ich war bei Sokhievs beeindruckender „Damnation“, das er Romeo & Juliette auch gemacht hat, wusste ich gar nicht.
Wie immer Danke für Ihren wunderbaren Blog.
Als DSO-Abonnent weiß ich auch noch nicht, wie es bei mir mit Ticciati weitergeht. Bislang war ich wenig überzeugt. Jedenfalls kein Vergleich mit Sokhiev – für mich.
Ja, Sokhiev mit Roméo et Juliette war 2015: https://www.youtube.com/watch?v=JG4OW_tic5Y