Geisterweinend: RSB, Slobodeniouk, Widmann spielen Schumann, Reimann, Beethoven

Solistin mit Orchester

Auch wenn man eigentlich gern im 19. Jahrhundert gelebt hätte, manchmal ist es gut, dass es nicht so ist. So kann man sich heute Robert Schumanns Violinkonzert anhören, ohne sich an dessen Abweichungen oder auch Unzulänglichkeiten zu stoßen. Wie es die Hörer im 19. Jahrhundert vielleicht getan hätten, wenn das 19. Jahrhundert sie dieses Werk denn hätte hören lassen; genauer gesagt die Schumannfamilie und die Freunde Brahms und Joseph Joachim, die es unter Verschluss hielten. Bis es 1937 zur vernazigifteten Uraufführung kam. Kein Wunder also, dass die Zeit dieses Werks jetzt erst gekommen zu sein scheint. Statistisches Faktum oder nur Berliner Konzertgangszufall, dass es in letzter Zeit immer häufiger zu hören ist? Mit der Geigerin Carolin Widmann bildet es den Mittelpunkt des vergeisterten, tränenreichen Konzerts, das das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in der Philharmonie unter Leitung von Dima Slobodeniouk spielt.

Wem stößt es beispielsweise noch auf, dass das Violinkonzert so einen unbrillanten und gar nicht schnellen Schlusssatz hat? Dieses überirdische Polonaise-Schunkeln, in diesem Konzert zart und frei von jeder Polterigkeit, hat was von todtrauriger Seligkeit.

Wenn Schubert himmlische Längen hat, dann sinds beim späten Schumann himmlische Unzulänglichkeiten.

Schon im Kopfsatz, ebenfalls nicht zu schnell, fragt man sich ja immer wieder, was der Schumann da eigentlich komponiert hat. Ist das nicht undeutsche motivisch-thematische Arbeitsverweigerung? Und bemerken Geige und Orchester einander gar nicht, gehört sichs in einem Violinkonzert nicht dialogisiert? Das Stück bleibt von Beginn an einfach stecken im Rauf und Runter, Runter und Rauf. Aber wie anrührend diese singenden Momente, an denen das Raufrunter innehält. Und mit welcher Hingabe und äußersten Klangschönheit die Solistin Carolin Widmann das spielt; fast alles in mittleren Lagen, die angeberischen Sologlanz nicht erlauben. Und wie liebevoll das Orchester auf die fremde Solistin lauscht, ihren Klangfarben sensibel sich nachsehnt. Das hat selbst in den Eintrübungen etwas Helles und Lichtes, als wollten die Musiker dem armen, umdüsterten Schumannein posthumes Geschenk machen. Man weint.

Der russische Dirigent Dima Slobodeniouk hat riesengroße Hände und Arme so lang, wie sein Name klingt. Aber da schlackert und lulatscht nichts. Slobodeniouk macht den ganzen Abend einen vortrefflichen Eindruck. Den langsamen Satz (wie später auch bei Beethoven) dirigiert er ohne Stab, mit seinen bloßen sanften Pranken.

In Schumanns Langsam kommt auch ein Zwilling von Schumanns berühmtem, an sich ja nicht hyperkomplexem Geister-Thema vor, bei dessen, spätestens, zweitem Ton der Konzertgänger stets in Tränen ausbricht:

Es begegnet einem übrigens auch in Tori Amos‘ Song Your Ghost (ab Minute 2:10):

Und so klingts im zweiten Satz des Violinkonzerts, hier in der Aufnahme mit Yehudi Menuhin, der die eigentliche, unverfälschte und nazigiftfreie Uraufführung spielte. Schmalzgeigerisch as different as can be von Carolin Widmann, aber egal:

Das Geisterthema ist auch das emotionale Zentrum von Aribert Reimanns Sieben Fragmenten in memoriam Robert Schumann von 1988, die am Beginn des Konzerts stehen.

Clara Schumanns Erinnerung, Schumann wähnte sich in jenen Tagen von Geistern umgeben, die ihm teils ‚wundervolle‘, teils ‚gräßliche‘ Musik darboten, die ihm ‚herrlichste Offenbarungen‘ verhießen, ihn aber auch ‚in die Hölle [zu] werfen‘ drohten, nimmt der Stimmenkomponist Reimann in seinem meistgespielten Orchesterwerk vielleicht ein bisschen sehr wörtlich. Das Klangbild ist mehr Spukschloss im Schrecksart als Geistervariation. Viel Dräuen, Blitz-und-Donner-Dräuen im Blech, Schrilldräuen im hohen Holz, Flageolettdräuen in den hohen Streichern, Profundisdräuen in den tiefen. Aber wenn erst in den Hörnern, dann im Holz das Geisterthema ersteht: dann heult der Konzertgänger quasi auf Knopfdruck, wie so ein pawlowscher Spukschlosshund.

Das RSB unter Slobodeniouk wirkt auch hier hervorragend, und ebenso in Ludwig van Beethovens 2. Sinfonie D-Dur am Schluss des Programms. So vergeistert ist man, dass man in den ersten drei Oboentönen in der Adagio-Einleitung das Geisterthema zu hören meint, nur einen Halbton tiefer; dabei sinds ja einfach drei absteigende Ganztöne. Slobodeniouk lässt dann das Kopf-Brio knallen und schwingen, als wärs ein Werk aus der allerheroischsten Phase Beethovens. Wie muss allein das abrupte Bumpern im Trio die Zeitgenossen erschröckt haben! Die klangliche Ausbalancierung und emotionale Bandbreite der Aufführung ist enorm.

Und von wegen Frühwerk: Wär Beethoven im selben Alter gestorben wie Schubert, wär die Zweite sein Spätwerk; wenn’s sie überhaupt gäbe. Und da kommt einem dieser geisterige Gedanke, Beethoven wär mit Anfang 30 gestorben und jetzt hätte wer diese zweite Sinfonie ausgegraben: und man würde sie hören und denken, was ein dolles Ding; was der Arme noch hätte komponieren können!

Weitere Kritiken: Schlatz weint nicht, sondern seufzt (vor Glück). Der Tagesspiegel achtet aufs Tempo.

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