sch:wer:fällig: Beat Furrers „Violetter Schnee“ an der Staatsoper Unter den Linden

Gibts heutzutage eigentlich was Langweiligeres als Apokalypsen? Hat schon seinen Grund, dass das Genre gänzlich vom Blockbuster aufgesogen scheint. Auf der Opernbühne schien Ligeti schon 40 Jahren mit Le Grand Macabre, der das Breughelland heimsucht, alles zur Apokallüpse gesagt zu haben. Nun aber legt Beat Furrer mit seiner neuen Oper Violetter Schnee, einem Auftragswerk der Staatsoper Unter den Linden, noch eine apokalyptische Vision vor. Die spielt kurioserweise auch im Breughelland, aber ist eher bierernste Tiefgründelei als feuchtfröhliche Höllenfurzfarce. So rein vom reizvoll Musikalischen her bemüht man sich aber ganz gern, mittiefzugründeln.

Das Ende der Zeit beginnt im Kunsthistorischen Museum. Denn die nicht eben spritzige Handlung nimmt ihren Ausgang von einer Betrachtung des Gemäldes Jäger im Schnee von Pieter Bruegel dem Älteren. Fünf Menschen irren herum, im bald darauf abgebrannten KHM, in einem steilen Treppenhaus, auf dem Dach eines Hauses. Genau genommen sind es vier Menschen plus einer, denn die vor sich hin sinnierende Figur des Jacques ist meist außen vor. (Sie ähnelt mit Schlottermantel und Schlotterhaar ein bisschen dem Schriftsteller László Krasznahorkai, noch so einem Dystopiker, der hier aber unbeteiligt ist; dafür stand Tarkowskis Solaris Pate, und Vladimir Sorokin schrieb die Vorlage, in der im Zuge der Libretto-Werdung allerdings kein Wortstein auf dem anderen geblieben zu sein scheint.) Die anderen vier plappern, träumen, hoffen, zittern, rätseln. Und dann scharwenzelt da noch eine weitere Figur durch die Szenerie, eine sprechende Frau, die Jacques‘ verstorbene Frau sein könnte. Nix Genaues weiß man nicht. Es schneit und schneit; am Ende geht die Sonne auf, aber lila — Auslöschung — Applaus.

Der gilt zuallererst, und sicher zu Recht, der Musik von Beat Furrer. Lange, heftig anschwellende Bläserakkorde sind da zunächst zu hören, dann rasante Stürze in die Höhe und die Tiefe; von auseinanderstrebenden Harmonien als Ausdruck des freien Falls spricht Furrer. Klingt die Musik im Ohr des Furrer-Neulings anfangs noch sehr gekonnt, aber etwas eintönig, steigt das Interesse an ihr kontinuierlich an. Bei einem zweiten Hören würden die übergeordneten Strukturen und Bezüge gewiss deutlicher. Im großen, nicht enden zu scheinenden Schlussklangbild stellt sich schließlich die erhoffte Sogwirkung ein: Nach all der vorherigen Stillstands-Hektik mit permanent wechselnden Erstarrungs-Szenen nun eine einzige schillernde farbenreiche Fläche, in der die Stimmen des so klar klingenden wie unendlich verloren wirkenden Vocalconsort mit der schwebenden Staatskapelle unter Matthias Pintscher verschmelzen.

Die Musik ist, selbst als beklemmender Ausdruck transzendental-dingsbümlicher Unbehaustheitskälte, das Wärmezentrum dieser insgesamt doch imponierenden Erfahrung. Sie schmiegt sich den Sprech- und Singstimmen an, eine Vertrautheit ist da zu spüren, die fast sinnwidrig wirkt, aber einnehmend sinnlich. Und so vermögen paradoxerweise auch die Stimmen der Verlorenen etwas wie Wärme zu vermitteln: allen voran das yogibärige Grundbrummen des Bassbaritons Otto Katzameier als Jacques – besonders schön, wenn es sich als schützendes Netz unter die kunstvoll im Sechseck springenden Sopranstimmen von Anna Prohaska und Elsa Dreisig spannt. Intendiert ist dieses Brummen freilich wohl ganz anders, nämlich als tastende, irrende Suche nach Sprache (ähnlich wie man es von Sciarrino kennt, vielleicht nicht ganz so subtil). Und wenn Katzameiers Stimme das Nichts, das Nichts bespricht und beflüstert und besummt, ist das klanglich spannender als alle Dauerhysterien zusammen.

Die schönen Baritonstimmen von Gyula Orendt und Georg Nigl komplettieren das bewundernswert souverän sich durch diese vermutlich ziemlich schwere, mikrotönig-krackelrhythmische Partitur arbeitende Sängerquintett, in dem die mittleren Lagen Tenor und Alt ausgespart sind. An deren Stelle tritt die Sprechstimme von Martina Gedeck, ein weiteres Wärmezentrum des Abends, auch wenn sie fröstelt und zagt. Und die Regie von Claus Guth lässt Gedeck durch die ergreifendsten optischen Kompositionen des Abends irren. Die Inszenierung ist durchweg bildstark; besonders sympathisch, dass sie so geschmackssicher ist, auf die Farbe Lila zu verzichten, auch im finalen Sonnenaufgang. Wie aber Gedeck in den herangezoomten Bildausschnitten der Jäger im Schnee unterwegs ist, an eingeschneiten Bauernhäusern vorbei und über die oder eher neben der Brücke eines vereisten Flüsschens im Bildhintergrund zu torkeln scheint – das sind Szenen, die sich tief einprägen.

Etwas läppisch dagegen der Einfall, immer wieder Statisten in den Kostümen des Bruegelbildes über die Bühne kreuchen zu lassen. Und auch ob es sinnvoll ist, eingangs das Gemälde in seiner Gänze zu präsentieren, sei mal dahingestellt. Das ist ja ein Dauergast in jedem Bildband Die 100 größten Meisterwerke. Und irgendwie hat selbst diese Oper an der Banalisierung des Auratischen durch permanente Reproduktion teil – nicht nur, weil die Staatsoper es auf den Umschlag ihrer Saisonbroschüre gedruckt hat. Dass das Bild, das schon Tarkowski in Solaris (atemberaubend) apokalyptisch abfilmte, eigentlich Teil eines aus sechs Bildern bestehenden Jahreszeiten-Zyklus ist, gerät da ganz aus dem Blick.

Dieses Detail im Umgang mit dem Bild ist keine Nebensache. Der sich modern dünkende Blick aufs 500 Jahre alte Bild mag nämlich Winter, Sterben, Vereisung nicht im Zusammenhang mit Frühling, Geburt, Aufblühen sehen. Völlig ungehemmt in dieser Hinsicht, und das scheint der größte Schwachpunkt von Violetter Schnee, ist die Eindimensionalität der Stimmung: Tristesse pur, garniert höchstens mit einer Prise Trostlosigkeit und einem Spritzer Depression, dass es manchmal wie die Karikatur seiner selbst wirkt. Ist das wirklich radikal oder nicht eher bequem?

„Schnee als Brandbeschleuniger für die Fremdheit“?

Der Text von Händl Klaus (Künstlername von Klaus Händl) versucht das Ganze in die Tiefe zu bohren, indem er sich der Mittel des austrischen Sprachexperimentismus at its worst bedient, nämlich in der raunend-humorfreien Variante: sch:wer:fällig. Liest man das bedeutungshuberische Libretto im Programmheft nach, wird der Eindruck leider nur noch schlimmer. Martina Gedeck hat als Sprecherin die Wörter in solche Tristesse-Phoneme zu zerhacken: Mensch:en. Ach Jott, wat fühl ick mir vereinzelt heute. Die behaglich mitzulesenden Übertitel führen die Wortzerhackung vollends ad absurdum. So erfordert das Mit-Ergreifen jedes einzelnen Worts für den Zuhörer keinerlei Mühe. Fällt das denn niemandem auf, dass man die Übertitel hier abstellen müsste?

Und egal, wie toll diese wunderbare Schauspielerin das alles hinbekommt: In Gedecks ausgiebiger Beschreibung des Bilds Jäger im Schnee am Anfang der Oper wird man den Eindruck nicht los, man schaute eine BR-Alpha-Bildungssendung mit Wackelkontakt an.

Erhebliche Zweifel also, ob es lohnt, dem Textentwurf weiter nachzugrübeln. Im Interview redet Händl Klaus gar vom Schnee als Brandbeschleuniger für die Fremdheit. Das ist schon eine sch:wer:fällige Bildsprache.  Mit der Musik sieht das anders aus, hörendes Nachbohren verspräche wohl einiges. Vier weitere Gelegenheiten gibts dazu am 16., 24., 26. und 31. Januar; die letzte Aufführung dirigiert übrigens Beat Furrer selbst.

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3 Gedanken zu „sch:wer:fällig: Beat Furrers „Violetter Schnee“ an der Staatsoper Unter den Linden

  1. Habe Ihren Beitrag leider erst jetzt gelesen und stimme in ganz vielen Punkten zu!

    Das Libretto war sicherlich eines der Hauptprobleme – ich hatte stellenweise das Gefühl, einem Vokabelheft „Die 100 häufigsten Wörter der deutschen Sprache“ zuzuhören – „die Kälte… so kalt… die Wärme… so warm…“

    Ich hatte aber auch mit der Stimmbehandlung ein Problem, die insgesamt doch recht konventionell war und atmosphärisch nie so dicht geraten ist wie die reinen Orchesterpassagen. Das fand ich besonders am Anfang deutlich: Im selben Moment, wo zum ersten Mal die Sänger einsetzten, brach der Zauber der Orchesterglissando-Winterlandschaft zusammen, und es begann herumzuopern.

    Freilich wurde eine opernklischeeferne Stimmbehandlung auch dadurch erschwert, dass der Text überhaupt kein dramatisches Potenzial hatte, die Figuren kein Profil und keine Tiefe hatten und es keine Konflikte gab. Also nichts, was dem Text irgendeinen drängenden emotionalen Ausdruck mitgegeben hätte.

    Das einzige, was ich tatsächlich anders empfunden habe: Die lebendiggewordenen Gestalten aus dem Bild haben mir prinzipiell gefallen. Schade fand ich nur, dass sie lediglich dekorativ herumgelaufen sind und keine tragende Rolle einnehmen konnten. Wenn man mehr damit gearbeitet hätte, dass das Bild, der Schnee, die Figuren zu leben beginnen, und diese Ebene eine Kraft bekommen hätte, die den Sängern gleichwertig gegenübertritt, hätte eine Tiefe entstehen können, die einen Großteil des banalen Texts überflüssig gemacht hätte.

    Die Musik aber, vor allem wie gesagt die reinen Orchesterpassagen, fand ich auch sehr schön – sicherlich eins der stärkeren Werke Furrers!

  2. Die Vorstellung, dass man das Museum nach der ersten Szene mit Gedeck oben auf der Straße irgendwie doch wieder sieht, nur kaputt, aber dafür sind die Bilder lebendig, finde ich schon sehr faszinierend. Eine kleine Arie für Dreisig oder Prohaska wäre natürlich nett gewesen.

    • Je mehr ich drüber lese und je länger ich drüber nachdenke, desto mehr scheint mir (neben der Sprach:wich:tig:tuerei) das auf den Stoff aufgepfropfte Gemälde-Seminar das Hauptproblem. In diesem Sinn argumentieren auch Uwe Friedrich und Jan Brachmann. Die Idee ist wohl von Claus Guth, der das ihm ungenügend scheinende Libretto in der Entstehungsphase in die Mangel nahm. Hat Furrer sich am Ende zu viel reinreden lassen? Auch in der Bühnenregie dann wohl: zu viel sachfremd Hinzugefügtes, um das Sperrige bekömmlicher zu machen, z.B. die doch wohl ganz überflüssige Blondinen-Schwarzhaarigen-Chose mit den Sopranistinnen, als wäre das Mulholland Drive. Tarkowski, Lars von Trier UND Lynch ist Referenzgau. Aber das ist vergleichsweise Nebensache. Mehr Interesse an den Menschen da auf der Bühne wäre schön gewesen, das haben Sie in Ihrem Artikel ganz richtig hervorgehoben. Tarkowskis Gestalten leben dagegen, bei aller Stilisierung!
      Die Musik würde ich dennoch gern nochmal hören.

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