Alle Jahre wieder, etwa zur Zeit des orthodoxen Epiphaniasfests, erwartet den Konzertgänger Ultraschall Berlin: jenes Festival, bei dem das Wetter noch schlimmer ist als bei der Berlinale, aber die Musik besser. Es ist entspannt, stellt ohne großes Brimborium fünf Tage lang die Stücke in den Mittelpunkt und schreibt neue Musik mit kleinem n. Alles in allem ein wohltuend konzentrierter Kontrast zum großspurigen Diskurs-Generve der MaerzMusik, die sich mittlerweile Festival für Zeitfragen oder internationales Festival für klangbezogene Kunstformen schimpft.
Kaum Diskurs, dafür drei sehr unterschiedliche Orchesterstücke gibts im Ultraschall-Eröffnungskonzert des Deutschen Symphonie-Orchester unter Sylvain Cambreling. Dafür ist man als Hörer dankbar. Alle drei Stücke sind zwischen 15 und 20 Minuten lang und etwa 10 Jahre alt. Es geht also auch ohne Uraufführungen; Ur ist ja oft genug bloß ein Synonym für danach nie wieder.
Im Großen Sendesaal des rbb fühlen sich Nostalgiker wie Futuristen wohl. Selbst wenn der rbb ein muffliger Gastgeber ist und den Rang des Sendesaals geschlossen lässt. Schade, es gibt Hörer, die sitzen lieber im Rang.
Nun, man hört auch im Parkett gut. Recherche sur le fond von Charlotte Seither ist eine Mischung aus Didgeridoo und Spukschloss im Spessart. Der fond ist eine Orgeltönung der tiefen Streicher, darüber gibts ausgiebige Glissandi wie langsames Erdrutschen. Die Geigen spielen gelegentlich im Fingernägel-auf-Tafel-Modus, Käuzchenrufe und andere Vogelstimmen klingen herein, man hört knarzende Türen und im Keller eine Motorsäge. Aber die Pozilei ist schon unterwegs, immer wieder hört man die Sirene. Das hat sinnlichen Reiz, und es ist alles nicht aggro (Seithers Zitat vom Komponieren als Zerstören wirkt irreführend), sondern spielerisch, konkret, frei von kompositorischen Einschüchterungsversuchen. Im Bühnen-Interview spricht Seither von der Suche nach der Knautschung und dem Duft jedes Tons. Es ist einnehmend, wie oft sie das Wort knautschen wiederholt.
Cambreling dirigiert das offenhörlich trefflich vorbereitete DSO in vorbildlicher, kompetenter Sachlichkeit. Manchmal wirkts, als hätte er einen steif geknautschten linken Arm, mit doppeltem rechten Winkel, einer an der Schulter, einer am Ellenbogen. Auch Cambrelings Übersetzung des Vorgesprächs mit dem belgischen Komponisten Philippe Boesmans knautscht an interessanter Stelle: Wenn Boesmans sich der im Küchenradio seiner Kindheit gehörten romantischen Klavierkonzerte von Tschaikowsky und Rachmaninow erinnert, macht Cambreling als Dolmetscher daraus Tschaikowsky und Grieg. Rachmaninow hatte aber hier seinen Sinn. Denn das im sympathischen Sinn altväterliche Capriccio des 82jährigen Boesmans, der als Hauskomponist der Brüsseler La Monnaie acht Opern komponierte, ist ein Doppelklavierkonzert wie aus dem Küchenradio einer versunkenen, nur noch im Traum erinnerten Welt. An den Klavieren sitzt das geschätzte GrauSchumacher Piano Duo, seinerseits sowas wie die Hauspianisten von Ultraschall. Ein nostalgisch absteigendes Dreitonmotiv zieht alles Weitere nach sich und kehrt immer wieder. Das Orchester aber setzt in tatsächlich rachmaninowscher Biegsamkeit ein, auch das Wechselspiel der Phrasen und Charaktere ruft solche Assoziationen hervor. Nur singt es sich nicht elegisch aus, sondern ist nach einer guten Viertelstunde vorbei. Unaufdringliche Virtuosität und perlende Lockerheit stecken auch darin, die was von Poulenc haben.
Selbst bei einem entspannten Neumusikfestival wie Ultraschall ruft sowas bei manchen Hörern leichtes Naserümpfen hervor. Die 50er-Jahre-Ultras hätten Boesmans nicht die Hand gegeben. Er ist ein Komponist frei von jedem Bedürfnis, das Publikum zu knautschen, das Capriccio könnte locker in einem Abokonzert der Berliner Philharmoniker laufen.
Joanna Woznys Archipel für Orchester aber würden die Abonnenten eins husten. Dabei ist es das reizvollste, beglückendste Stück des Abends: eine Geschlossene-Augen-Musik von höchster Konzentration bei immensem klanglichen Reichtum. Ein anfänglicher hoher Klang voller Glissandi und Mikroakkordik weitet sich im Lauf des Stücks, aber nicht an Lautstärke oder Bewegung, sondern im Inneren: an Klanggehalt, an Spreizung und Dichte der Farben und Nuancen. Leise bleibt es, und die Pausen werden immer länger. Nur ein simples Schlagzeugmotiv, ganz für sich, ist immer wieder dicht am Ohr.
Die Polin Wozny schrieb Archipel für die neuerrichtete Herz-Jesu-Kirche in München und findet im Herz Jesu die sinnierende Maria. Das Sakrale ist aber für diese Musik gar nicht nötig, weder als konkreter Raum noch im übertragenen Sinn. Diese Musik ist Kontemplation im wirklichen Sinn, nicht entspannend bis einschläfernd, sondern als scheinbar unendlich langsam wachsende innere Spannung, unterwegs in einen Zustand der inneren Fülle. Erfüllende Knautschung.
Weitere Kritik: Schlatz
Lieber Herr Selges, nachdem ich mit meinem Sohn im Parkett des Eröffnungskonzertes neben Ihnen saß und schon vermutete, dass es sich bei Ihnen um einen „Musikkritiker“ handeln könnte, habe ich nun Ihre famosen Kommentare gelesen und bin entzückt, wie treffend und humorvoll Sie diesen Konzertabend beschreiben. Ja, da waren wir auch! – Mit besten Wünschen Ihre Heike Thulmann und Sohn
Freut mich sehr, wenn Sie Ihr Konzert in meiner Nacherzählung wiederfinden! Beste Wünsche zurück, und empfehlen Sie die „neue Musik“ weiter, sie verdient es und kann es gebrauchen.
Na, etwas weniger Einführung wäre mir auch gestern lieb gewesen. Ich habe mich im Vorfeld auf ein erfrischend kurzes Konzert gefreut, die Flügel wären übrigens in der Pause aufbaubar gewesen, dann auch ohne Plauderei. Aber vielleicht wollte Cambreling wohl mit dem in der Tat starken Stück von Wozny schließen. Und stimmt natürlich, bei Ultraschall geht es erfreulich nüchtern zu. Stimme auch Ihrer Beurteilung des gestrigen Abends zu, wobei mir der Boesmans vermutlich doch noch besser gefallen hat als Ihnen. Die Opern von Boesmans sind auch hörenswert, insbesondere „Reigen“, das es in der Stuttgarter Aufführung, dirigiert von Cambreling, bei Arte zu sehen gab. Vielleicht könnte die Staatsoper Unter den Linden einmal eine von Cambrelings verdienstreichen Neue-Musik-Produktionen aus Stuttgart übernehmen anstatt mit Uraufführungen glänzen zu wollen, die dann unbefriedigend ausfallen. Es gibt so viele tolle zeitgenössische Opern, die nachzuspielen sich lohnte.
Bin heute Abend bei Kissin/Jansons und ab Freitag wieder bei Ultraschall. Die beiden Herren konnte ich nicht auslassen.
Ja, es mangelt wahrscheinlich an Opernhäusern weniger an Uraufführungen als am zweiten und dritten Nachspielen von anderswo Uraufgeführtem. Es muss mindestens eine „UA der überarbeiteten Fassung“ sein.
Auf das Geplauder könnte ich auch verzichten, aber es ist wenigstens kein Diskurs und „thinking together“. In 2 von 3 Konzerten am Donnerstag wurde nicht geplaudert.
Den Ultraschall-Freitag muss ich auslassen, am Wochenende bin ich dann bei den meisten Sachen wieder dabei. Habe wegen Kissin und Jansons geschwankt, aber im Programm kommt wirklich alles zusammen, was mich nicht interessiert.