Kurz vor Mitternacht sitzt eine Cellospielerin allein auf der Bühne. Mögen die Augen des Hörers allmählich zufallen, so öffnen sich noch einmal die Ohren am Ende dieses zweiten Ultraschall-Tages im Heimathafen Neukölln. Und die Herzen. Sollte tatsächlich irgendwer auch anno 2019 noch die elende Phrase rauskloppen, neue Musik wär eine verkopfte Angelegenheit, so müsste man ihn umgehend in ein Rezital der französischen Cellistin Séverine Ballon schicken. Denn das ist eine Erfahrung mit Haut und Haar, vom Scheitel bis zur Sohle, vom Ohr direkt ins Herz.
In charismatischer Versunkenheit, dann wieder ekstatischer Anmutung spielt Ballon fünf Solo-Stücke für Cello. Aber das Instrument ist nie allein. In Liza Lims an ocean beyond earth ist sogar ein Partner-Instrument physisch anwesend, eine aufgehängte Violine, die durch um die Saiten gelegte dünne Schnüre mit Séverine Ballons Cello verbunden ist. Ballon sitzt da, wie es sich gehört, das Cello zwischen den Beinen, aber man sieht ihre Hände zwischen den Instrumenten und ahnt die Fäden bloß. Es ist, als spielte da eine unsichtbare Marionette; sichtbar ist nur deren Fadenzieherin. Einen Moment lang scheint es wiederum, als spielte diese Frau ihr Instrument mit dem eigenen Haar. Teils entrückt, teils verschreckt wirkt Ballon dabei über die sirrenden Klangwelten, die sie mittels schwebenden seidenen Fadens den Holz- und Luftkörpern entlockt. Eine Klangsuche nicht um des Effekts willen, sondern aus Möglichkeitssinn und Möglichkeitssinnlichkeit.
Ein anderer unsichtbarer Partner ist anwesend und abwesend zugleich in Francesca Verunellis Ultimi fiori, einer Melodie für zwei Stimmen – was für einer! Es ist ein Gesang aus langen, langsamen, sehr leisen Tönen, den Ballon durch extreme Verkürzung der Saite, wenige Zentimeter oberhalb des Stegs, hervorbringt. Die Skordatur des Violoncellos und die sich daraus ergebende Serie der Naturtöne bewirken, dass die ganze Harmonik sich in Achteltönen abspielt, wodurch meist nicht-temperierte Intervalle entstehen, erfahren wir aus dem Kommentar der Komponistin. Die Unvorhersehbarkeiten der Tongebung wirken da wie aus einer fernen Welt, man ist gar an Bibers Rosenkranzsonaten erinnert. Wenn die Spielerin dann gegen Ende auf den unbegrenzten Saiten streicht, mit abgewinkeltem linken Arm und ausgelassen wie ein Kind, ist die Wirkung nach dem zuvor Gehörten ungeheuerlich. Denn dass Ultimi fiori ein Abschiedsgesang ist, Erinnerung an einen Tod, ein schmerzlich zerrissenes Nachlauschen, so ruhe- wie schmerzvoll: Das spürt man in jedem Moment. Und so ist tatsächlich und wirklich etwas wie tiefe Ergriffenheit spürbar unter den verbliebenen Hörern, die sich doch schon müde gehört hatten. Das Ultraschall-Festival feiert dieses Jahr Jubiläum; und Verunellis Stück dürfte eins der erschütterndsten, schönsten sein, die in diesen 20 Jahren gehört wurden.
Séverine Ballon spielt in ihrem Rezital auch Stücke von Ashley Fure, Timothy McCormack und eine eigene Komposition, die alle das Interesse an dieser Musikerin und diesem Instrument vertiefen. Das Konzert ist der Abschluss und die Krönung eines Tags, der mit Bedacht komponiert ist. Man freut sich über die neuen Farben des Cellos, nachdem man sich zuvor über die neuen Farben von Blas, Balg und Gesang gefreut hat. Diese wiederum folgen den Farben eines Streichquartetts: unverwüstlich anscheinend; ob unausgeschöpft, ist eine andere Frage.
Aber jedes Stück beantwortet sie anders. Zwei recht kurze Quartette im Konzert des Quatuor Diotima zeigen das altehrwürdige Format in blühender Lust und wucherndem Leben. Sivan Eldars Solicitations bestehen aus Fragmenten und Bruchstücken, aus denen sich aber einiges aufbaut statt nur Bauklötzchen anzustaunen. Malte Giesens Divertimento ist Reflexion und Verjuxung zugleich von Mozarts Divertimenti KV 136 bis 138 im Spiegel von Sample, Loop und Durchkreuzung. Dass keiner im Saal lacht, spricht das gegen das Stück oder gegen das Publikum?
Beat Furrers III. Streichquartett (eine 3 tuts bei Furrer nicht, es muss schon eine III sein) ist mehr als doppelt so lang wie die anderen beiden Stücke gemeinsam. Der kompositorische Aufwand ist überaus spürbar; man liest vorher viel über die vom Film Memento inspirierte rekonstruierende Struktur, und begreift man auch nix, so scheint der Ablauf doch zwingend: Jede Geste ist so energisch und scheint so präzis, dass man gebannt folgen könnte wie einem meisterlichen Krimi, den man freilich auf Japanisch ohne Untertitel sieht. Man kommt weder über atmosphärische Krücken (wie bei Sciarrino) weiter noch erlaubt der Gestus der Musik ihrem Hörer eine Haltung des Mit-Suchens. Hat die außer Zweifel stehende Komplexität dieses Stringenzquartetts nicht was von autoritärem Gehabe?
Oder gar was toxisch Männliches? Das ginge vielleicht zu weit dem sanften, klugen Herrn Furrer gegenüber. Jedenfalls aber ist dieser zweite Tag sonst, und vielleicht sogar der ganze Ultraschall-Jahrgang, erfreulich weiblich. Die Mezzosopranistin Hildegard Rützel und das Duo Mixtura, das aus der Schalmei von Katharina Bäuml und dem Akkordeon von Margit Kern besteht, beglücken mit einem vielfältigen, durchkomponierten Konzert, in dem mehrere Madrigale von Johannes Ciconia drei neuen Kompositionen gegenüberstehen. Teils verschmelzen sie miteinander, teils stoßen sie sich voneinander ab, aber nie auf gewaltsame Weise.
Schön und höchste Zeit, dass der bisher in groteskem Ausmaß Männern vorbehaltene Ernst-von-Siemens-Musikpreis dieses Jahr der Komponistin Rebecca Saunders verliehen wird. Wäre Annette Schlünz nicht auch eine werte Preisträgerin? Achtsam und stimmig ergründen und beleuchten ihre 9 Gesänge (der Siemenspreisträger 2018 schriebe wohl IX statt 9) die zugrunde liegenden Texte, in denen Dichterinnen von Christa Wolf bis Ulrike Draesner die mythischen weissagenden Sibyllen der Antike spiegeln. Ebenso spiegeln sich Akkordeon und Schalmei einerseits, Singstimme andererseits ineinander. Die Schalmei der stupend virtuosen Bäuml anverwandelt sich fast mimetisch oder kontrastiert fast clownesk. Das Akkordeon, das in jedes Chanson eine Spur neue Musik bringt, bringt hier in die neue Musik den Duft von Chanson. In Rützels warmer klug geführter Stimme gibt es diese typisch zickzackigen Intervallsprünge der Gegenwartsmusik, aber auch bleunesse und schmerzvolle Wehmut, die stellenweise fast ans Lied von der Erde erinnert.
Sowohl die umtriebige Katharina Bäuml als auch die Komponistin Annette Schlünz haben ihre musikalischen Wurzeln in der alten Musik. Auch die beiden weiteren Stücke für die ungewöhnliche Kombination Schalmei und Akkordeon suchen nach einer musikgeschichtlichen Tiefstendimension für die eigene Gegenwart. Eres Holz‘ Madrigal ist paradoxerweise besonders vom Gesang her gedacht und verzichtet dennoch (oder gerade deshalb?) auf die menschliche Stimme. Das Akkordeon klingt hier zunächst wie Fafner an der Kirchenorgel und lässt so die Schalmei um so höher fliegen – und weiß sich ihr dann doch so erstaunlich anzuschmiegen, dass die beiden Instrumente als ideale Partner erscheinen. Sehr durchdacht wirkt das alles und kommt doch immer vom Klang her. Dániel Péter Birós De Natura et Origine greift dagegen auf Spinoza zurück. Die Vertreibung der Juden aus Portugal im 15. Jahrhundert, Synagogalgesang und Gregorianik, Spinozas Naturdenken und jüdische Zahlenmystik fließen in die facettenreiche Konstruktion ein. Dass das einen Hörer, der im Lauf eines langen Festivaltages dann und wann einen Hänger hat, überfordern kann, spricht nicht gegen das Stück. Etwas weihevoll und gediegen scheint es, vielleicht auch überkonstruiert, aber voller Respekt, der sich bereits im unendlich leisen ersten Einsetzen des Akkordeons ausdrückt.
Der Konzertgänger pausiert am Freitag von Ultraschall (Freitagsbericht bei Schlatz), ist aber am Wochenende wieder voll dabei. In der Pause der Live-Übertragung des Abschlusskonzerts am Sonntag ist er im Kritikergespräch auf Deutschlandfunk Kultur zu hören.
Zu den einzelnen Konzerten: Séverine Ballons Cello-Rezital / Streichquartette / Mixtura
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Hört sich nach einem ertragreichen Tag an. Schade, dass ich die Uraufführung von Eren Holz nicht hören konnte.