Es gibt im Konzerthaus am Gendarmenmarkt diese mittendrin-Reihe des Ex-, Ehren- und für manche Hörer Irgendwie-immer-noch-Chef-Dirigenten Iván Fischer, bei der Musiker und Publikum bunt durcheinander gewürfelt sitzen und die bekannten Stücke auf einmal ganz sonderbar klingen. Aber wenn der Fischer Gustav Mahler dirigiert, kann man auch senkrecht überm Orchester sitzen oder jottweedee im elfzehnten Rang und die Konzerthaus-Akustik kann so schluffmuffig sein, wie sie will – man wähnt sich auch hier mittendrin im Herz der Musik. Mahlers 9. Sinfonie beginnt in D-Dur und endet in Des-Dur, wenn man das überhaupt noch so nennen will; ein kleiner Schritt auf der Tonleiter, aber ein großer Schritt für die Menschheit usw, und für den markerschütterten Hörer schon mal überhaupt.
Fischer, der dieses Werk mit seinem Budapest Festival Orchestra auch eingespielt hat, dirigiert Mahlers Neunte im Konzerthaus einmal im mittendrin-Format und zweimal sozusagen konventionell, was also keineswegs außen vor bedeutet. Der Konzertgänger ist bei der ersten der beiden „normalen“ Aufführungen am Freitagabend dabei; Sonntagnachmittag gibts die zweite. Dass Fischer in diesem Programm nur und nichts als die Neunte dirigiert, liegt nicht an Arbeitsscheu. Sonst würde Fischer sich beim Dirigieren nicht so viel Mühe zugeben, wie er’s tut: ein Dirigat von Herzen, das wieder zu Herzen geht.
Aber nicht zu Hertz, denn Fischer ist ein großer Leise-Dirigent unter den Chefs. Er nimmt wie stets etwas Bass raus, die Kontrabässe stehen hinter dem Orchester. Und er lässt Ausdrucksextreme ohne Krach erklimmen, wie er anderen Dirigenten hier schon mal passiert, selbst wenn sie den Saal kennen (sollten); tinnituöse Erinnerungen an Muti vor kurzem und Inbal vor längerem passieren das Konzertgänger-Gehör. Okay, bei denen wars Bruckner; trotzdem. Fischer hingegen kann insistieren, ohne Hörkörperverletzung zu begehen. Jähe Wechsel zwischen Hornwohltönigkeit und schrillem Schreckensklang; die äußerste aller Anspannungen aber entsteht im Stehenbleiben und Erstarren. Schönste Todesvögel umflattern einander; Flöte Kerttu Aalto-Setälä, Horn Bertrand Chatenet. Die ergreifenden Gesten der Solovioline (Sayako Kusaka) machen alles nur noch trauriger.
Der allen Optimisationen zum Trotz noch immer akustisch heikle Großgoldene Saal des Konzerthauses ist für diese wunderschöne sinfonische Trümmerlandschaft gar nicht das Schlechteste. Schon schwierig, sich in diesem ellenlangen ersten Satz zurechtzufinden; aber man hat ja stets diesen ewig wiederkehrenden Seufzer als schwarzen Faden, an dem man sich in den Weltabschied hangeln kann. Fischer indes dirigiert das Ganze aus der kompakten Taschenpartitur, aber mehr noch wohl aus dem Kopf.
Die Absurdität der Satzbezeichnungen hat Mahler hier auf die Spitze getrieben. Dass ein Allegro ja oft nicht heiter ist, merkte schon Beethoven an; warum also nicht einen Kopfsatz, der den Gipfel der Ungemütlichkeit darstellt, comodo nennen? Außerdem ist es ja gar kein „richtiger“ Kopfsatz, sondern ein Andante; die vier Sätze der Sinfonie sind ja klassizistisch betrachtet zweimal zwei Mittelsätze. Kopf und Finale sind futsch.
Aufs Andante comodo folgt so ein bizarr hüftsteifer Kontrast, ein Ländler von Ungemach verheißender Gemächlichkeit. Der klingt hier wie ein brachialer Luschtigkeits-Automat. In dem Rondo-Burleske-Dingsda, Satz 3, stapfen Ameisen mit wichtigen Gesichtern und schweren Stiefeln in gravitätischem Trotz die Ameisenstraße hinab. Im totalfinalen Schluss-Adagio aber gelingt Fischer das Wunder, über prima strukturierte gewaltige Steigerungen die Musik dann so der Welt abhanden gekommen zu machen, dass man sich jenseits von Zeit und Raum wähnt: da wo nichts endet und man nirgends ankommt und immer schon da ist. Manche sagen Des-Dur dazu. Die letzten versterbenden Streicherklänge, ein Mirakel an zerbrechender Sorgfalt, gehören zum allerschönsten seit lang Gehörten.
Kurz gesagt und wunderschön und todtraurig: Für den Konzertgänger ist der Fischer im Allgemeinen und diese Aufführung wieder mal im Speziellen eine Hörbekanntschaft, die sein Herz näher angeht. Wie erwähnt, Sonntagnachmittag nochmal. Und am 13. März spielt Fischer übrigens mal mit seinem Budapest Festival Orchestra in Berlin, freilich was ziemlich anderes als Mahlers Neunte. Aber bei Fischer wird auch Strawinsky Herz haben.
Fischer tut nun wirklich das Gegenteil von Bässe rausnehmen!!! Er betont immer den Bass enorm, indem er sie nach hinten und frontal stellt. Mehr Bass für alle.
Kommt drauf an, auf welcher Seite im Saal man sitzt. Aber wahrscheinlich geht es auch gar nicht so sehr um mehr oder weniger, sondern um Ordnung, Trennschärfe und Verschmelzung des Klangs und auch um die Kommunikation im Orchester.