Endlich mal wieder ein rundweg königlicher Auftritt des Koninklijk Concertgebouworkest in Berlin! Zweimal war das Nach-Mariss-Jansons-Orkest in den letzten Jahren hier: einmal mit einem Dirigenten, bei dem der Konzertgänger nicht recht weiß (Manfred Honeck), einmal mit einem deprimierenden Totalausfall (Gatti, unabhängig von den später publik gewordenen Grabscherei-Vorwürfen). Nun aber Iván Fischer, beim Festival Absolut Strawinsky!
Und was man mal sagen muss, Wiener Philharmoniker und Concertgebouw innerhalb weniger Wochen hat man auch in der Philharmonie nicht alle Tage, wenn nicht gerade Musikfest ist. Aber im Konzerthaus, sieh an. Das Programm ist festivalgemäß Strawinsky pur. Aber was ist bei Strawinsky schon pur?
Strawinskys Petruschka macht eigentlich immer Spaß. Aber so prächtig, so erzkomisch, so austariert und trennscharf, dabei wohlig-bedrohlich und halsabschnürend schön hat man’s selten vernommen. Die Bassklarinette und das Gnarzen der Celli können einen bös bis in den Schlaf verfolgen. Und was hat dieses Orchester nur für eine kaltblütige Flötistin. Und einen endcoolen Trompeter, der den vorgestellten Ballerina-Auftritt umrankt. Und einen Pianisten, der geradezu spannungsreicher wirkt als der Klaviersolist in einem anderen Werk heute Abend.
Dieser Petruschka ist individuelle Brillanz und Klangbalance aus dem Großen Buch der Exempel. Und manchmal macht Petruschka ja nicht nur Spaß, sondern kann einem auch ein bissl lang werden, weil den Charakteren und der Handlung im Jahrmarktgewusel so schwer zu folgen ist. Aber hier wünscht man sich, das Stück wär zehnmal so lang. Immerhin gibt Iván Fischer, charmant angekündigt wie immer, noch die 1942 entstandene Zirkuspolka für einen jungen Elefanten hinzu.
Hat das Concertgebouw eigentlich schon einen neuen Chef? Aber Fischer will sowas nicht mehr, oder?
Zwei spätere Strawinsky-Streiche gehen dem Petruschka voraus. Emanuel Ax‘ sachliches Spiel scheint dem Capriccio für Klavier und Orchester von 1929 sachgemäß. Ginge in solcher Musik (das Programmheft nennt sie kubistisch) ein „eigener Ton“ des Solisten? Im eröffnenden Presto tupft fein die Linke, im Andante rapsodico klemmt manchmal eine Taste, im wuseligen Finale kommt Ax gar seine persönliche Affinität zum Jazz zugute, die man ihm als gebildetem New Yorker, weil sonst etwas nicht stimmen würde, mal unterstellen darf. Der eigene Ton des Concertgebouw ist indes Hyperbrillanz ohne Auftrumpfung.
Eine unpassendere Zugabe als Chopins Grande valse brillante a-Moll opus 34,2 könnte Emanuel Ax wohl kaum finden. In der Mitte des Stücks sagt eine Frau im Rang laut zu ihrem Mann: Das konnte meine Mutter auch immer so doll spielen. Auf der innehaltenden Dominante etwa zwanzig Takte vor Schluss klatscht ein Enthusiast im Parkett schon fröhlich Beifall.
Die Zeit läuft rückwärts in diesem Konzert: Das erste Stück des Abends ist das späteste. Im Concerto in D für Streichorchester von 1946 meint man zu hören, wie der Neoklassizismus seinem eigenen Zerfall zuhört. Im Mittelsatz wabert Melancholie über die Tanzfläche, irgendein Tanzschritt ist mehr als bloß aus dem Tritt geraten, und es tropft chromatisch durch die Saaldecke. Alles ist Versatz und Verknappung. Der Streicherklang des Concertgebouw aber ist eindrücklich homophon, intelligent und pur. Doch was heißt bei Strawinsky schon pur?
Absolut Strawinsky! geht am Mittwoch zu Ende. Den Auftritt von Iván Fischers allereigenstem Budapest Festival Orchestra darf man mit mit Spannung erwarten. Ein Manko des schönen Festivals ist indes schon erkennbar, nämlich dass kein Werk des späten Strawinsky nach 1950 gespielt wird. Diese letzte Selbsterfindung Strawinskys, etwa in Agon oder den Requiem Canticles, hätte doch neben der „russischen“ und der „neoklassizistischen“ Phase dazugehört.
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