Knallziseliert: Budapest Festival Orchestra im Konzerthaus

Nach der jensinnig-verzwickten Psalmensinfonie noch einen dreinfahrenden Sacre, will man das wirklich? Aber die Knaller müssen abgehakt sein beim Strawinsky-Festival im Berliner Konzerthaus, jene des Herzens und jene des Staats (um mal Sarah Kirsch fehlzuzitieren). Schade allerdings auch im abschließenden Konzert mit dem Budapest Festival Orchestra, dass der späte Strawinsky ganz ausgespart bleibt. Dafür gibt es vorab drei Knallbonbons.

Ob die Vier norwegischen Impressionen, das Scherzo à la russe und der Tango, die Strawinsky alle in den Kriegsjahren nach seiner Emigration aus Europa in die USA schrieb, zu den zehn besten Impressionen, Scherzi und Tangos der Welt gehören, sei mal dahingestellt. Aber das Budapest Festival Orchestra wurde mal in eine Liste der zehn besten Orchester der Welt gewählt, worauf es verständlicherweise gern hinweist. Die innige Verbundenheit des BFO mit seinem Gründer Iván Fischer ist jederzeit zu spüren. Die Kontrabässe stehen fischertypisch hinter dem Orchester (anders als vorgestern beim Concertgebouw, das damals sogar in den Top One war), und der Dirigent kommt erst mit dem Beginn der Intrada der Norwegischen Impressionen hereingeschlendert. Im Publikum sitzen, gutes atmosphärisches Zeichen, einige Musiker des Konzerthausorchesters und auch Michael Sanderling, der hier am Wochenende mal was Anderes als Strawinsky dirigieren wird.

Das BFO spielt diese, bei aller Raffinesse, zum Zweck der schnellen Geldbesorge komponierten Stücke locker runter, wenn auch nicht bestürzend brillant oder überpointiert. Eigentlich wären das die geborenen Zugaben. Die zweite Impression ist ganz schön nordisch mit ihrem Liedthema, das vom Englischhorn bis zur Bratsche wandert. Das Scherzo ist teils schön schrullig instrumentiert (ein Abschnitt mit 2 Violinen, 2 Klavieren und 1 Harfe). Beim Tango legen eine Geigerin und ein Geiger die Instrumente beiseite, um eine doch eher mittelflotte Sohle aufs Parkett zu legen – zentraleuropäisches Tanzschulflair statt heißblütigen Argentiniertums.

Aufatmen denn doch, dass beim Staatsknaller Le Sacre du Printemps niemand tanzt. Es wird eine krasse Aufführung, auch wenn man am Beginn nicht recht weiß. Aber die nebulöse Energie im Holzbläsergeschwirr fasziniert schon da. Überhaupt scheinen die Holzbläser das Prunkstück des BFO zu sein; im Sacre vom hohen Fagott am Anfang bis zum Englischhorn im Schlussteil. Erdige Kräfte erwachen ruckartig und plötzliche Schockeffekte, die einem die Haare zu Berge stehen lassen, in diesem Konzerthaussaal, wo bei solchen Sachen leicht mal der Tinnitus dräut. Aber die leisen Ballungen knallen noch ärger, die Binnenspannung ist hoch, kein schlapper Moment, schlanke Schärfe, aus allen Ecken und Enden fleuchen neue Urwüchte hervor, der Level hält bis zum Schluss. Eine knallziselierte Exekution ist das, endlich mal wieder ein richtiger Schlotterschocker von Sacre, eine sauber ausgeführte musikalische Gewalttat, die dem Hörer genüsslich ein Gliedmaß nach dem anderen abschneidet und abhackt.

Da verknust man es auch leichter, dass der Herzensknaller Psalmensinfonie zuvor weniger nach a prayer made of steel (Bernstein) klang als eher ein bisschen knäckebrotig: arg spröde, spröder vielleicht, als sie müsste. Denn die Psalmensinfonie kann doch eigentlich tief berühren, trotz dieser gewissen Unnahbarkeit, die ihr ohne hohe Streicher und ohne Gesangssolisten ja eignet, und obwohl Strawinskys Spiritualität, analog zum Neoklassizismus, was von Neoreligiozismus hat (schon weil er nicht zu kirchenslawisch-orthodoxen Wurzeln zurückkehrte, sondern Lateinisches vertonte).

Die Holzsolisten sind aber auch hier vorzüglich, allen voran Oboe und Flöte im Mittelsatz Expectans. Und der RIAS Kammerchor prononciert so gut, dass man wohl auch Bulgoslawisches Altglagolitisch wortwörtlich verstünde, Latein also umso leichter. Aber eine gewisse Mürbigkeit haben die Piani schon. Sogar der manchmal so betörende Alleluja-Schluss plätschert da eher vor sich hin.

Aber vielleicht ist es doch alles ganz werkgerecht so, und Betörung wäre Verfälschung?

Anyway, am Ende ist man doch froh, dass noch der Sacre-Knaller folgt. Unerwünschter Nebeneffekt des gelungenen Festivals höchstens, dass Strawinsky nicht nur kein Spätwerk geschrieben zu haben scheint, sondern auch (darf man das finden?) Strawinskys drei Evergreens der Jahre 1910 bis 1913 doch die größten Knaller sind.

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Weitere Kritiken: Herr Schlatz. Herr Krieger.

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3 Gedanken zu „Knallziseliert: Budapest Festival Orchestra im Konzerthaus

  1. Ehrlicherweise muss man sagen, dass das Spätwerk (ganz herrlich Agon, vor Urzeiten mit Rattle) für noch mehr Lücken im Saal gesorgt hätte. Die Bläser waren wirklich schön. Habe das BFO zum 1. Mal gehört und war von Klang und Musizierfreude sehr angetan. Der Schlotterschocker aus der Puszta allerdings – nee.

    • Mit den Lücken im Saal mögen Sie Recht haben. Anderseits, ziehen so ein Concerto in D oder der Tango-Scherzo-Kram aus den 1940ern wirklich mehr als Agon? Weiß doch eh keiner, was das alles ist.
      Die frühen Knaller müssen halt drin sein, klar.
      Ich bin immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich wir vieles hören. Sie als alter Konzisionsfuchs werden natürlich stets besser hören und Recht haben. Dennoch, ich war vom SACRE sehr angetan, weil ich den mal richtig brutal fand – nach zuletzt einem ganz ordentlichen, aber vielleicht doch zu braven mit der Jungen Philharmonie unter Petrenko und einem allzu routinierten und auch nachlässigen vor anderthalb Jahren mit der Staatskapelle unter Barenboim.

      • Seien wir ehrlich, ob eine Interpretation gefällt oder nicht, beruht zu etwa gleichen Teilen auf langjährig erworbenem Geschmack, momentaner Stimmung (etwas geringer gewichtet), Kenntnis des Stücks (etwas geringer gewichtet) und nicht zuletzt der tatsächlichen künstlerischen Leistung. Daher die unterschiedlichen Urteile.

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