Maßlos erlösend: Korngolds „Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper

Ist der beinah einhellige Jubel über diese Erich-Wolfgang-Korngold-Produktion der Deutschen Oper Berlin berechtigt? Und hat Das Wunder der Heliane tatsächlich das haarsträubendste Libretto der Operngeschichte oder bloß das zweithaarsträubendste? (Und falls Letzteres, welches ist noch haarsträubender?)

Bis Anfang April ist Gelegenheit, das herauszufinden. Der Konzertgänger ergreift den Schopf bei der zweiten Aufführung, vier Tage nach der Premiere.

Viel vom notorischen Menschheitspathos des Expressionismus steckt im zugrundeliegenden Drama des Österreichers Hans Kaltneker (1895-1919), über den der Bambi- und Josefine-Mutzenbacher-Autor Felix Salten schrieb: eine Flamme, die leuchtend und hoch aufloderte, und plötzlich erlosch, vom ewigen Dunkel verschlungen. Dazu eine Menge durchgedrehter Erlösung-durch-Sex-Wahn. Aber vergleicht man sie etwa mit Otto Weininger, ist Kaltnekers pubertäre Sexualtheologie (Arne Stollberg) in ihrer radikalen Partnerschaftlichkeit doch auch ganz sympathisch. Wenn Sie für Ihn die Hüllen fallen lässt, gibts Erlösung von der Erbsünde, inklusive doppelter Auferstehung. Das kann man nachvollziehen, wenn man sich das Herz eines 17jährigen bewahrt hat.

Christof Loys Inszenierung muss man dafür loben, dass sie die abstruse Handlung weder zu retten versucht (was aussichtlos wäre) noch ins Lächerliche zieht (was allzu billig wäre). Der holzvertäfelte Einheitskasten mit Uhr an der Wand, die immer auf 5 nach 2 steht, ist aber doch auf Dauer etwas nichtssagend. Man könnte sich auch mal austoben an so einem durchgeknallten Ding, vielleicht mit einer Mischung aus Caligari und Metropolis und Film noir und Buñuel. Loys These, dass sich das Irreale nur im realen Raum so richtig entfalte, scheint bei diesem Stoff doch ein Missverständnis; die Heliane mit ihrer von vornherein maßlos symbolischen Welt ist doch nicht Dreyers Ordet, in dem es ebenfalls zur Auferstehung kommt, aber eben in einer (scheinbar) realen bäuerlichen Welt. Und vor allem ohne die, ebenfalls von vornherein maßlose, Korngold-Musik.

Andererseits, manchmal ist es ja besser, nichts zu sagen.

Im ersten Akt fürchtet der Konzertgänger zeitweise, den Quatsch nicht auszuhalten. Trotz nackter, wirklich nackter Sängerin. Schon für diese Bereitschaft muss man die Sopranistin Sara Jakubiak bewundern; denn auch wenn Korngold 1927 nicht auf eine wirklich nackte Sängerin hoffen konnte, scheint die wirkliche Nacktheit der Heliane von zentraler helianologischer Bedeutung. Auch das können 17jährige Herzen nachvollziehen.

Aber mit der Zeit entwickelt die Musik einen Sog, dass es keine nackte Sängerin mehr braucht, um einen bei der Stange zu halten.

Korngolds Musik, von Nazis und Avantgarde-Dogmatikern verdammt, ist das Gegenteil von nackt. Wem Strauss zu spröde und zu karg ist und Puccini zu melosfrei, der wird hier geholfen. Korngold setzt immer noch eine und noch eine Schicht drauf. Dabei fängts ja schon maßlos an. Seraphische Stimmen, die von der Seligkeit der Liebenden tönen, setzts nicht erst in der Apotheose, sondern schon im überbordenden Vorspiel. Der Orchesterklang ist von maßloser Schönheit, die als Filmmusik herunterzuschwafeln eine geistige Bankrotterklärung wäre. Und der Gesang ist betörend und überwältigend – zuvorderst natürlich die Arie der Heliane Ich ging zu ihm im 2. Akt, die Stollberg in seinem lesenswerten Einführungstext detailliert als komponiertes Zum-Orgasmus-Kommen analysiert. Da hört man Atemzäsuren mit anderen Ohren!

Wenn einen schließlich die Doppel-Auferstehung und Entrückung zum Schluss eines so ausgewiesenen Knallsinns derart ergreift, kann man darüber reflektieren, wie das menschliche Herz durch massig Kitsch und kunstvolle Masse doch zu manipulieren ist. Man kann es aber auch einfach schön finden.

Dem Dirigenten Marc Albrecht gelingt es, dass die Wogen des Orchesters der Deutschen Oper den Gesang niemals überfluten, sondern jederzeit tragen. Das ist bewundernswert. Dass es überhaupt gelingen kann, ist auch ein Beweis für Korngolds Kunst der Dosierung von Klangmassen. Der von Jeremy Bines vorbereitete Chor, der im Lauf des Geschehens immer wichtiger wird, imponiert durch Brutalität, Lüsternheit, Ekstase. Genau das richtige Maß von Maßlosigkeit.

Auch und vor allem für die Sänger hohes Lob. Das Wunder der Heliane ist Gesangsoper durch und durch. Dass Aribert Reimann wieder mal im Publikum sitzt, ist ja allein schon Kantabilitäts-Gütesiegel; und wenn dieser 82jährige Herr die 180 Minuten (plus Pause) packt, dann werden 28jährige und 41jährige Damen und Herren ja wohl nicht die Segel streichen.

Sara Jakubiak ist nicht nur aufgrund ihrer heroischen Entblätterung eine herrliche Heliane, ihr Gesang wärmt und beglückt, die Höhen strahlen. Und auch wenn seine Stimme nie ganz frei zu strömen scheint und das Timbre nicht sehr facettenreich wirkt, ist Brian Jagde ein Tenor von beeindruckender Kondition. Der Bassbariton Josef Wagner zeichnet die Zerrissenheit des Herrschers stärker als die Finsternis. Die Mezzosopranistin Okka von der Damerau ragt aus dem insgesamt guten Ensemble so turmhoch heraus, dass man bedauert, dass die Rolle der Botin nicht größer ist. Burkhard Ulrichs blinder Richter und Derek Weltons Pförtner zeigen die Klasse, die das Ensemble der Deutschen Oper hat.

Ist der Jubel berechtigt? Maßloses Ja. Verstehen wir die Welt nun besser dank des Wunders der Heliane oder sträuben sich uns bloß die Haare? Worte stoßen nicht nur im tiefsten, sondern auch im flachsten Sinngewässer an ihre Grenzen. Manchmal ist es besser, nichts zu sagen. Der Rest ist Schwelgen.

Nur drei Aufführungen gibts noch: am 30. März, 1. und 6. April.

Mehr über den Autor  /  Zum Anfang des Blogs

8 Gedanken zu „Maßlos erlösend: Korngolds „Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper

  1. Reimann saß aber nicht auch noch im 1. Rang??? Ich war nach einem erschrockenen Blick auf die Uhr gestern Abend schnell weg, um die Nachtarbeit abzukürzen. Nee, Loys Bühne passte für mich genau. Mich störte eher die Rumsteherei. Im dritten Akt war ich für den Herrscher. Der dröge Messianismus des Fremden nervte auf Dauer doch etwas.
    Diese Nacktheit auf der Theaterbühne – ich weiß nicht. Kommt mir immer vor wie die Akademiker-Variante der Oben-Ohne-Mädls aus BILD. Siehe auch Sasha Waltz‘ Tannhäuser (Staatsoper).
    Vermutlich mache ich es wie Herr M. und gehe noch mal rein, auch weil das Werk nächste Saison nicht kommt.

      • Ja, Reimanns Kondition ist bewundernswert. Der war auch in der noch längeren Premiere vom Propheten und anschl. noch bei Premierenempfang…
        Habe einen Freund, der ist 82 und geht seit Jahrhunderten in die Oper, wen der schon alles gehört hat…..der geht mitunter auch 2-3 mal die Woche.. Schon beundernswert.
        Dann ist da eine Stammgästin, ebenfalls in dem Alter, die ist extra in die Nähe der Oper gezogen, damit sie es näher hat und geht auch mehrmals die Woche, die hat z.B. alle Propheten gehört..

    • Na ja, die Nacktheit ist ja vorgegeben und keine „Idee“ des Regisseurs. Ich fand das 3. Bild besonders gelungen, ohne Aktionismus, denn so konnte man sich ganz der Musik hingeben.
      Die Handlung habe ich als gegeben hingenommen und mich halt nur auf die Musik und die Sänger konzentriert und hirnrissige Handlung „vergessen“

  2. Bravo!!!!!
    Stimmt alles, ich war allerdings von den ersten Tönen an schon gefangen und fasziniert.
    Die Jakubiak singt nach ihrer eigenen Aussage in der nächsten Saison an der KO wohl in der Toten Stadt. Angeblich im September unter Carsen, aber der hat Ende Sept. Premiere in Toronto mit dem Eugen Onegin…..

Schreibe einen Kommentar