Weltrettend: Premiere von „Albirea“ im Atze-Theater

Wenn der böse Geist die Menschheit in der Pfeife raucht, muss ein Mädchen ran!

Grand opéra fantastique im Atze! Jeder, der in Berlin Kinder hat, kennt das Musiktheater im Wedding: Mit seinem Dreijährigen geht man zu Oh wie schön ist Panama oder Ferdi und die Feuerwehr, mit der Zehnjährigen zu Rico, Oscar und die Tieferschatten oder dem Stück über die Mädchenrechtlerin Malala, mit dem Teenager dann zu dem preisgekrönten dreieinhalbstündigen Biopiece über Johann Sebastian Bach. Bis zu sechzehn Vorstellungen gibts in der Woche, kein Berliner Opernhaus spielt mehr. Das neue Stück ALBIREA – Nur ein Kind kann die Welt retten von Thomas Sutter und Sinem Altan nun wird beworben als die größte ATZE-Produktion aller Zeiten.

Und tatsächlich, nicht nur die Besetzung ist für Kindertheater-Maßstäbe riesig (13 Darsteller und 11 Musiker, wenn nicht verzählt), sondern auch die Bühne immersiv: Bis in die Mitte des Zuschauerraums und hoch zu den Scheinwerfern wird gespielt, im Bühnenhintergrund wölbt sich eine große Videoleinwand. Dunkel dräuendes Gewölk empfängt einen dort schon vor Beginn der Vorstellung, grünlich schwadet der Saal. Es geht aber auch mächtig um was in Albirea: nicht weniger nämlich als die Rettung der Welt, die vom Geist des Zerstörerischen beherrscht wird. Dieser Geist hat seine Mitgeister, den der Freiheit und den des Ausgleichs, verdrängt und treibt die Welt in lebensvernichtende Finsternis. All drei Geister aber, erfahren wir zu Beginn, sind Schöpfungen des Menschen. Die Menschheit hat selbst hervorgebracht, wovon sie ausgelöscht wird. Lebenssterne gehen nicht auf, Kinder werden tot geboren. Ein wildes Mädchen aber, aufgewachsen unter Tieren im Wald, macht sich auf zur Rettung der Welt, per videochoreographiertem Drachenritt und mit sanfter Friedensliebe zur Quelle der Weisheit.

Hui. Albirea ist ein beeindruckendes Fantasy-Stück mit adäquatem Eso-Faktor und ebenso adäquat trashigen (die Konzertgänger-Tochter sagt: geilen) Kostümen. Alles irgendwo zwischen Überwältigungsästhetik und Sonntagsrede: halb Mystery-Spektakel, halb Stuhlkreis. Das Wort des anderen wiegt so schwer wie dein eigenes, hören wir im beschwingten 3/4-Takt. Denn Thema ist die weltverändernde Kraft des Wortes Warum, das der böse Geist Draco, er weiß schon warum, verflucht hat. Iljá Pletner spielt diesen Geist, ein bisschen wie der Mars in Wonderwoman sieht er aus, hart gepanzert und mit dreißig Zentimeter lang schlackernden silbernen Tränenwimpern. Am überzeugendsten klingt seine Stimme, wenn sie sich vor Erregung überschlägt; und seinen E-Kontrabass spielt dieser funkelnde Finsterling mit einem Bogen, den er aus der Scheide zieht wie ein Schwert.

Der Wunsch, das Stück pädagogisch nachbereitbar zu machen, springt einen durchaus an, manchmal ein bisschen sich verschwafelnd. Aber der Spannung tut das kaum Abbruch. Rauschende Wälder kommen vor, die aus verführter Rachsucht in Brand gesetzt werden, geheimnisvolle blinde Weise, verräterische Einflüsterer. An Mystik wird nicht gespart, auch wenn der Tiefsinn gelegentlich zu dick aufgepinselt wird: als wäre unendliche Ewigkeit unendlicher als Ewigkeit. So mitreißend das alles ist, wirkt das Pathos gerade im ersten Teil etwas erschlagend. Im zweiten Teil gewinnt das Ganze nochmal an Fahrt und an Facetten. Wenn der böse Geist ein Teetischchen hereinschiebt und erst die Erlöserin Albirea, dann der Geist selbst, dann der Verräter Alkor ulkig mit ihren Tässchen klappern, schadet dieser komische Bruch der geheimnisvollen Atmosphäre gar nicht, sondern steigert sogar die Intensität. Die stärkste Szene überhaupt folgt, wenn Albirea auf so einer Art fernem Wüstenstern Andromeda die Quelle der Weisheit wiederzuerlangen sucht, im Kampf mit der unsichtbaren dreifachen Wächterin Merope – ein fesselndes Spiel mit Stimmen und Körperformen, die aus drei flexiblen Säulen hervordringen.

Schon allein die Präsenz der hervorragenden Hauptdarstellerin Guylaine Hemmer aber würde genügen, den Besuch von Albirea zu empfehlen: knurrend, winselnd, animalisch hockend und sich krümmend, vor aufblitzender Wut in die eigenen Handgelenke sich verbeißend und bei alldem mit reinem Herz um die Zukunft der Menschheit ringend. Als Albirea von den Tieren des Waldes zu den Menschen kommt, begegnet sie dem vom Geist Draco verfolgten Jäger Elnath, den David Ford überzeugend darstellt. Aus dem guten Ensemble ragt daneben noch Falk Berghofer als Alkor hervor, der Verräter und zugleich Erzähler (diese Kopplung ist vielleicht eine anfechtbare Idee).

Die Musik ist arbeitsteilig entstanden. Musikalisch reicher als die zweckmäßigen, eingängigen Songs von Thomas Sutter (zugleich Buch und Regie) sind die Instrumentalkompositionen von Sinem Altan, die das Ensemble auch vom Keyboard aus leitet. Die Musik ist mal einschmeichelnd, mal dramatisch, synkopisch. Bald unternimmt das Keyboard Ausflüge in impressionistische Harmonik, bald steigert sich die Musik in trommelstampfende Räusche. Eine Symbiose aus asiatischer Skalenkultur, archaisch-mittelalterlichen Klangflächen, progressiv-zeitgenössischen Harmoniestrukturen und rockigen Song-Formen aus der Atze-Tradition beschreibt Sinem Altan die Komposition. Ihrer Musik begegnet man ja öfter auf den einschlägigen Veranstaltungen der Gegenwartsmusik. Ohne sich anzubiedern, stellt Altans avancierte Kunst sich hier ganz in den Dienst des kindlichen Abenteuers; denn darin gehts ja um die Welt. Und in der Teetisch-Konfrontation von bösem Geist und wild-reinem Mädchen ausgerechnet das Adagio molto e mesto aus Beethovens Rasumowsky-Quartett Opus 59, 1 erklingen zu lassen – das ist ein atmosphärisch feiner Witz, den auch Kinder verstehen, ohne dass sie dazu den Namen Beethoven kennen müssten.

Aber zehn Jahre alt wie empfohlen, oder zumindest acht oder neun, falls sie aus hartem Holz geschnitzt sind, sollten sie schon sein für Albirea – Nur ein Kind kann die Welt retten: nicht nur wegen der teils düsteren, bedrohlichen Atmosphäre, sondern eben weils hier um die ganze Welt geht. Fast dreißig Aufführungen gibts in den nächsten Monaten.

Weitere Kritiken: Die Mottenpost schwer begeistert und mit Formulierungs“kunst“ aus dem Orkus: Albirea nun mit Greta Thunberg zu vergleichen, wäre übertrieben. Denn Albirea ist nicht dogmatisch. What the hell. Außerdem inforadio.

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