Vor dem Entfleuchen in den konzertlosen österlichen Arbeitsurlaub mit der Familie noch irgendwo hingehen, wo’s garantiert gut wird: Da ist das Vogler Quartett eine sichere Bank. Bewährte Qualität, aber nie routiniert.
Schön auch das Konzerthaus an einem Samstagabend, wenn im Großen Saal nix gespielt wird. Auf dem Weg hinauf zum Kleinen Saal magische Atmosphäre wie in einem Badeort nach Ende der Saison. Oben wartet Rihm, eingerahmt von Haydn und Brahms. Vor Konzertbeginn unterhalten sich zwei alte Damen über die ehrenamtliche Deutschnachhilfe für einen Flüchtlingsjungen. Das Publikum hier hat neben aller sonstigen auch Herzensbildung.
Um die vier Stimmen nicht in das Korsett eines übergeordneten Metrums zu pressen, notierte Rihm die Klangzeiten als graphische Verbindungslinien in die Partitur – wem hilft so ein Programmheft-Satz beim Hören? Nützlicher ist die zweiminütige lockere Einführung, die der erste Geiger Tim Vogler vor Wolfgang Rihms 2. Streichquartett opus 10 (1970) gibt. Ein Klassiker mit Mikrotönen sei das und wie ein Beziehungsstreit, sagt er, eine hysterische Beziehungskiste. Sein Kollege Frank Reinecke ergänzt, das Stück sei einer Andrea gewidmet. Vortragsbezeichnung auf keinen Fall hastig, später dann brünstig und versickernd.
Stephan Forcks Cello fängt tatsächlich gleich unter der Gürtellinie (vulgo Steg) an. Später packt der Cellist den Bogen rabiat mit beiden Händen. Heftiges Zittern und Rutschen allenthalben. Auch in kurzen Inseln der Ruhe breitet sich schnell Unruhe aus, Nervosität, Hektik, Erregung.
Klingt nach einer verdammt anstrengenden Beziehung, aber auch nach verdammt gutem Sex.
Verträgt das Medium Streichquartett die permanente Höchsterregung des frühen Rihm nicht um einiges besser als die frühen Orchesterwerke wie Tutuguri oder Opern wie Jakob Lenz? Und wird von Rihm möglicherweise die Kammermusik nachhaltiger bleiben als diese großbesetzten Stücke oder gar die repräsentativen Werke der letzten Jahre?
Als schöner Kontrast zu Rihms hysterischer Beziehungskiste erweist sich so das zuvor gehörte elegante Streichquartett F-Dur op. 74 Nr. 2 Hob III:73 (1794) von Joseph Haydn. Sehr schön eine Passage im Andante grazioso, in der sich Bratsche und Cello in arger Flinkfingrigkeit abplagen müssen, während die Geigen herüberlauschen wie zwei Sportskanonen in der Turnstunde, die überlegen lächelnd ihren Kameraden beim quälenden Stangenklettern zusehen dürfen.
Nach der Pause zwei ungewohnte Erscheinungen auf der Bühne: eine Frau und eine Person ohne Brille. Annemarie Moorcroft und Mischa Meyer vom Deutschen Symphonie-Orchester ergänzen das Quartett bei Johannes Brahms‘ 2. Streichsextett G-Dur opus 36. Ist es nicht doch das schönere, weil kammermusikalischere Sextett als das orchestrale in B-Dur? Vor einiger Zeit waren beide von einem renommierten Streichquartett mit Gästen auf eine Weise zu hören, die (vielleicht berauscht von der eigenen Klangfülle) deutlich unterprobt schien. In der glühenden und genauen Interpretation von Vogler feat Moorcroft/Meyer bleiben hingegen keine Wünsche offen.
Das Agathe-Motiv imKopfsatz muss man immer erwähnen, den Abschied von der Jugendliebe und Kurzzeitverlobten Agathe von Siebold. So leid es einem für Brahms persönlich tut, dass er unverheiratet blieb (denn Verheiratetsein ist doch was Schönes) – seien wir ehrlich, in der dollsten Ehe hätte er nicht so guten Sex haben können, wie er ihn mit der Musik hatte.
Nächstes Konzert des Vogler Quartetts am 2. Juni.
Dieses Mal bin ich neidisch.