Niederländische Niederbrüche beim Musikfest Berlin: zweimal Sinfonisches – einmal apokalyptisch, einmal romantisch. Bernd Alois Zimmermann und Anton Bruckner. 100 Jahre alt wird das Rotterdams Philharmonisch Orkest heuer. Seine Geburtstagstour ist zugleich die Abschiedsrunde des Dirigenten Yannick Nézet-Séguin, der zusätzlich zu seinen Chefstellen in Philadelphia und Montréal 2020 musikalischer Leiter der Met wird. Man muss auch loslassen können. Chefposten zumal. Die Gastspiele beim Musikfest Berlin haben indes immer das Schöne, viel die jeweilige Community zu hören; in dem Fall Exil-Niederländisch, das keineswegs nach Halskrankheit klingt. Noch schöner wärs, wenn mehr Berliner sich in die Philharmonie wagen würden, auch wenn nicht gerade das Concertgebouw oder die Bostoner spielen.
(Nachtrag: Pustekuchen, bei Boston ist es voll, aber beim Concertgebouw ebenfalls halbleer. Warum?)
Zumal die Rotterdamer den Mut haben, ihr Programm einzuleiten mit der nie gespielten Nebenversion eines nie gespielten Stücks. Bernd Alois Zimmermann, der im selben Jahr geboren wurde wie das Rotterdams Orkest, ist einer von vielen Themenschwerpunkten dieses Musikfests. Die Sinfonie in einem Satz erklingt nicht in der 1953 fertiggestellten Endfassung, sondern in der von Zimmermann verworfenen Version mit Orgel von 1951. Das schafft massiven Erinnerungswert für den Hörer.
Das Stück beginnt mit einem Knall sondergleichen und entfaltet sich in so krassen Kontrasten, dass es das Gegenteil von Stunde-Null-Musik ist. Von einer Zeit der Niederbrüche schrieb der Komponist 1956: Es gab kein Entrinnen; Ungeborgenheit, Unsicherheit, Angst: Symptome, die nicht zu übersehen waren, all das drängte zur Aussage. Stil war zwar nicht Nebensache, aber sekundär. Gegenüber Zimmermanns späterem „pluralistischen Klang“ ist die Sinfonie in einem Satz unverhörbar direkt sich ausschreiendes Frühwerk. Aber was für eins! Die Orgel ist definitiv zu viel des Guten, aber dieses Zuviel ist hier gerade richtig.
Und das Orchester hat eine Schärfenpräzision, die man gestern beim Sacre der Staatskapelle vermisste. Und eine deprofundische Kraft in Bässen und Blechen, die die Ungeheuerlichkeit dieses Ausdrückenwollens spürbar macht. Ganz plausibel zugleich die Verwandtschaft mit Bruckner; nicht nur wegen des Zufalls, dass Zimmermann das Werk dem späteren großen Bruckner-Interpreten Günter Wand widmete, sondern eher in der geistigen Orientierung am Katholizismus und der klanglichen Prägung durchs Orgelspiel.
Yannick Nézet-Séguin dirigiert als Soldat des Ausdrucks. Was nun Nézet-Séguins Brucknerqualitäten anbelangen würde, war der Konzertgänger vor Beginn eher skeptisch gestimmt. Leerer Hochdruck, glattkalte Perfektion, solche Befürchtungen. Aber dann wirds eine Interpretation der „romantischen“ 4. Sinfonie Es-Dur, die vielleicht nicht in die tiefsten Tiefendimensionen brucknerscher Geistigkeit eindringt, aber auf jeden Fall in die brucknerscher Körperlichkeit.
Topografische Irritationen: Die Kontrabässe sind hinter dem Orchester platziert, was dem Klang gelegentlich etwas Schwebendes gibt. Die Pauke steht vor der Tuba, direkt an den Geigen, mit denen sie am kondukt-artigen Schluss des Andante quasi allegretto unnachahmlich verschmilzt. Und der Hornist David Fernández Alonso versteht so zu intonieren, dass man sich am Anfang ernsthaft fragt, ob da einer auf hoher Empore oder von draußen spiele.
Die rhythmischen, treibenden Züge gehen vor Struktur. Der Orchesterklang ist hervorragend gestaffelt und jederzeit spannungsgeladen, die Streicher atmen wunderbar, jede Phrase tönt erfüllt, auch wenn bisweilen Effekt über Sinn zu stehen scheint. Aber was für Effekte – etwa diese ersterbenden Abgesänge. Die gewaltige energische Kraft des Rotterdams Orkest springt nicht nur beim Vergleich mit dem erwähnten Staatskapellen-Sacre ins Ohr, sondern auch im Rückhören auf den tranigen Bruckner des Concertgebouw Orkest vor einem Jahr. (Ein Eindruck, der hoffentlich am Dienstag vergessen gemacht wird.) Der kernexplosivste Moment überhaupt aber ist hier dieses 37fache Pianissimo der Streicher im Finale. Und noch am Schluss hört man irgendwo aus der Ferne Zimmermanns Orgel-Apokalypse herwehen.
Sie haben ja oft in ihren Besprechungen Platz für… sagen wir mal interessantes Verhalten des Publikums.
Da wundert es mich ein klein wenig, dass Sie den Gänsemarsch der Verspäter durch Block A nach der Pause nicht erwähnt haben, der den Beginn schon ein wenig hinausgezögert hat…
Ich habe den 1. Hornisten beobachtet. Er trug es mit Fassung.
Der Dame hinter ihm sah man schon eher an was in ihr vorging.
Vielleicht an dieser Stelle zur Einordnung ein Auszug aus einem Gespräch mit Fergus McWilliam für die kanad. Rundfunkserie „A Case for Anton Bruckner“,Teil 2 – grob übersetzt:
Frage: „Gibt es (bei Bruckner) eine Hornpassage, die besonders gefürchtet ist bei Hornisten?“
Fergus: „Der Beginn der 4. Sinfonie. Die fängt mit zwei Takten Tremolo in den Streichern an. Kaum zu hören. Dann setzt das Horn ein mit einer eigentlich nicht besonders schwierigen Note. (…) Aber das Warten ist es.
Eine Bruckner-Sinfonie kommt häufig nach der Pause, und der Hornist schwitzt schon die ganze Zeit während der Pause. Dann hat er endlich seinen Platz eingenommen, man steht auf und nimmt den Applaus entgegen. Man fasst nach dem richtigen Ventil, probierts nochmal, muss es richtig hinbekommen.
Und dann verspätet sich der Dirigent aus irgendeinem Grund.
Er kommt einfach nicht direkt auf die Bühne.
Die Sekunden ticken vorüber, und jede davon ist wie eine Bombe.
Er kommt immer noch nicht.
Dann ist er endlich da. Bekommt er seinen Applaus. Dann wendet er sich den Streichern zu, und dann fängt dieses Tremolo an.
Es dauert eine Ewigkeit bevor man endlich anfangen kann zu spielen.
Das furchterregend für meisten Hornisten.
Es gibt da einen Andekdote .
Vorspiel für eine Stelle als Solo-Hornist.
Da braucht man dann eigentlich nicht mehr als dem Kandidaten zu sagen
„Kommen Sie bitte nach vorne. Vielen Dank. Wir bitten Sie jetzt um den Beginn von Bruckner 4.“
Als der Hornist sich gerade bereit macht sagt man:
„Noch nicht! Wir bitten Sie erst einmal fünf Minuten zu warten. Bleiben Sie einfach da stehen und warten Sie. Wir sagen ihnen bescheid wenn sie loslegen können.“
Jeder, der diese Tortur überstehen kann hat das Zeug, Solo-Hornist zu sein.“
Das ist wirklich ein schönes Exzerpt, vielen Dank!
Stimmt, den bizarren Gänsemarsch habe ich wohl verdrängt. Dabei bekam er ja nach einer Weile sogar Applaus für den „gelungenen“ Auftritt.
Die schienen alle zusammenzugehören, oder? Gäste eines Sponsors, die aus der Sekt-Ecke kamen, oder der niederländischen Botschaft oder so?
Da hatte der Blumenstrauß zum Schluss noch einmal seine besondere Berechtigung.
Was die Zuspätgekommenen betrifft: Die machten auf mich den Eindruck, etwas angeheitert und direkt vom kleinen Empfang im Foyer 1. OG rechts gekommen zu sein. Hatte da das Orchester geladen anlässlich seines Hundertsten? Wie auch immer, Sekt vor einem Konzert – und erst recht vor Bruckner – ist nicht gerade der beste Musikeinstieg. Ich hab’s mir mittlerweile ganz abgewöhnt.
Finde Essen vor Bruckner und Konzerten allgemein bedenklicher als Sekttrinken.
Guten Morgen, Herr Selge,
danke für den Text zum gestrigen Konzert. Ich kann Ihnen nur zustimmen. Vom Zimmermann war ich sehr angetan und habe das Stück mit viel Gewinn gehört. Der Bruckner hatte auch in den leisen Stellen eine Spannung (jedenfalls ab Satz 2), die mich ganz in ihren Bann gezogen hat.
Erstaunt war ich auch, dass das Haus nur halbvoll war. Vielleicht doch ein bisschen zu viel Angebot beim Musikfest? Oder der Orchestername nicht berühmt genug? Dabei sind die Musiker wirklich hervorragend, das Blech z.B. war ausgezeichnet. Den Hornisten erwähnen Sie ja: wirklich wundervoll sanft gespielt.
Herzliche Grüße
Sten Beneke
PS: Habe Ihren Blog heute erst entdeckt. Werde ich jetzt öfter mal reinschauen.
Meine Erfahrung beim Musikfest ist, dass es nur bei den Orchestern mit den ganz berühmten Namen voll ist. Eine Kategorie unprominenter (letztes Jahr SWR, oder ich erinnere mich auch an Kopenhagen, St Louis…) ist es meist peinlich halbvoll. Es gibt natürlich ein (zu?) großes Angebot, aber eben auch einen Mangel an Neugier und Offenheit, würde ich sagen.
Freue mich, wenn Sie öfter reinschauen!