Einen Tag nach dem Beginn des Musikfests 2018 nun die offizielle Eröffnung: mit zwei Ritualen, einem hochkultiviert-feinsinnigen und einem grobschlächtigen, geradezu sittenwidrigen. Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin spielen unter dem Motto Merci à Pierre Boulez erst desselbigen Rituel in memoriam Bruno Maderna, dann Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps.
Über die geradezu messianischen Kräfte, die jüngst Kirill Petrenko zugeschrieben wurden, verfügt in Wahrheit Daniel Barenboim. Er bittet das Publikum vor dem Konzert, nicht zu husten, und höre, das Publikum hustete nicht.
Was auch an der wunderbaren Einführung liegen mag, die Barenboim Pierre Boulez‘ Rituel in memoriam Bruno Maderna für Orchester in 8 Gruppen (1974/75, rev. 1987) zuteil werden lässt. Man spürt Barenboims Herzblut. 1964 spielte er als 21jähriger Pianist in der neueröffneten Philharmonie, am Pult stand der 39jährige Boulez; und auf dem Dirigentenpodest stand Boulez noch vor wenigen Jahren, um bei den Berliner Philharmonikern sein explosante-fixe sowie Strawinskys Rossignol zu dirigieren. Das war schön! Nun ist Boulez tot, und es gibt wieder Boulez und Strawinsky. Bewegend.
Aber bei Barenboim wird es nicht sentimental, sondern alles ist leicht, humorvoll, im besten Sinne kindlich-staunend. Er beginnt seine 30minütige (!) Strukturanalyse des Rituel, indem er die merkwürdige Tatsache merkwürdigt, dass die Zahl 1, mit der jede Zählung beginnt, eine ungerade Zahl ist. Das ist in der Tat eine Feststellung, die angetan ist, einen die Nacht lang zu beschäftigen. Wer über sowas staunen kann, der ist am Leben.
Kleiner Mann vor riesengroßer Partitur, aber wie er da 30 Minuten gehaltvoll plaudert: ein riesengroßer Mann.
Und verblüffend, wie übersichtlich die Struktur des Rituel wird. Man kann die 15 plus x Abschnitte danach locker mitzählen und die Komplexität des Klangs andächtig bis wollüstig genießen. Die Dominanz des Edelmetallisch-Perkussiven gegenüber dem europäischen Streicherzentrismus. Acht Gruppen sind im Saal verteilt, nur zwei davon auf der Bühne. Jede Gruppe (vom einzelnen Oboisten bis zu vierzehn Blechbläsern) hat einen reichbearsenalten Schlagzeuger dabei, die größte Gruppe zwei. Die geben das Maß vor, aber fallen nie ineinander, so dass keine Schlagseite ins Stampfen entsteht, bei Boulez stampft das Ritual nur diversifiziert. Tiefe kommt aus den Gongs, Kontrabässe sind nicht dabei. Der übersichtliche Ablauf (ständiger Wechsel von Gruppenspielen und zentralen Gongpassagen) lässt tatsächlich einen rituellen Sog entstehen. Yoga-Gruppen fürs denkende Ohr, auch wenn die Gongs schon irgendwann nerven können.
Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps könnte nach diesem ziseliesigen Raumklangrausch wirken wie der ungehobelte Verwandte aus, sagen wir, Chemnitz. Aber dem stehen die hochkarätigen Musiker der Staatskapelle entgegen, und Barenboim schüttelt ein Frühlingsopfer eh aus dem Ärmel. Vielleicht allzu sehr, aber die Probezeit ist ja offenhörlich Boulez zugute gekommen, und das ist aller Ehren wert.
Holger Straubes zartes Fagottsolo klingt extrem unungehobelt. Man meint in den ersten Takten glatt Debussy zu hören, den Opfernachmittag eines Frühlingsfauns. Oder Boulez! Zu Beginn tönen die Holzbläser und das Horn zart über den skandalösen Rhythmen. Die Interpretation nimmt das Scharfe, Drängende, Gewaltdräuende zurück, der Pfeffer kommt dann etwas pauschal. Bei Rattle wäre die Schärfe gewiss präziser, das Klangbild brillanter. Hier klingt es selbstverständlicher, in gewissen Passagen schwelgerischer und, auch wenn sich das Wort beim Sacre eigentlich verbietet, wärmer. Der Eindruck einer gewissen Unterprobtheit lässt sich indes nicht verhehlen. Aber wie gesagt, die Zeitersparnis ist Boulez‘ selten gespieltem Großwerk zugute gekommen. Den Sacre gibts ja alle Tage, das Rituel nicht. Insofern Merci à Daniel Barenboim für dieses Rituel in memoriam Pierre Boulez.
Morgen kommen die Rotterdamer zum Musikfest.