Prima Raritätenquote nach wie vor von Kirill Petrenko bei den Berliner Philharmonikern! Doch erstmal muss man durch gespannte Atmosphären: Im Kassenbereich drängelt sich ein bekannter Kritiker an der Reservierte Karten-Schlange vorbei, mit demütigender Ignoranz für den hilflosen Philharmonie-Mitarbeiter, der ihn mehrfach freundlich bittet, sich (wie andere Besucher und Kritikerkollegen) anzustellen. Im Block B hört man dann einen gutbürgerlichen Normalbesucher ohne Scham über „nur noch Araber und Türken“ abrotzen. Aber Beethoven hören, ist klar!
Mit Daniel Barenboim kehrt gelöstere Stimmung ein, auch wenn mancher sie zu gelöst finden mag für Ludwig van Beethovens 3. Klavierkonzert c-Moll opus 67. Es klingt eher romantisch, teils sogar impressionistisch als revolutionär. Dr. Dr. mult. ped. spielt hier überdies, und böse Zungen würden behaupten, es schleppt. Was den Hörer dennoch einnimmt: Erstens dass das Orchester kein Schleppenträger ist. Zwar ist man höflicher Gastgeber, es klingt, als würde Barenboim dirigieren, nicht Petrenko. Aber das heißt eben auch, dass Orchester und Solist sich völlig eins sind über die Gangart, auch wenn die eher Allegro con breit (nicht aber brioche!) ist als brio. Auch wenn man sich Zeit nimmt, wirkt das nicht routiniert, sondern respektvoll. Und, zweitens, Barenboims Respekt gegenüber dem einzelnen Ton, die pure Schönheit seines zarten „Anschlags“ (scheußlicher Begriff), zumal in den gläsernen Sphären nach der Kadenz im Kopfsatz oder bei diesem Largo-Thema, das nach Schubert klingt.
Also, Geschmackssache. Vielleicht hat man Beethoven zu den Zeiten von Josef Suk so gespielt?
Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die Symphonie c-Moll opus 27 „Asrael“, und der Komponist Josef Suk ist mit dem legendären Geiger Josef Suk nicht verschwägert, wohl aber verwandt, nämlich vergroßvätert. Mit
Antonín Dvořák hingegen war er verschwiegersöhnt, will sagen, mit dessen Tochter Otylka verheiratet. Auf Wikipedia erfährt man außerdem Epochales, das hier auf keinen Fall unter den Teppich gekehrt werden soll:
Mehrere Quellen berichten, dass der bekennende Eisenbahnliebhaber Dvořák seinen damals noch zukünftigen Schwiegersohn Suk dazu angehalten habe, sich Lokomotivnummern auf Bahnhöfen zu notieren. Auch soll Dvořák Suk Prüfungen über seine Kenntnisse des Lokomotivwesens unterzogen haben.
Für die etwa einstündige, monumentale Asrael-Symphonie spielt das freilich keine entscheidende Rolle. Wichtiger ist, dass das Werk entstand, nachdem beide Dvořáks gestorben waren: die Sätze 1 bis 3 nach dem Tod des Schwiegervaters 1904, die Sätze 4 und 5 nach dem Tod der Ehefrau 1905.
Und hier dirigiert jetzt eindeutig Kirill Petrenko. Die Aufführung steht vom ersten Ton an unter maximaler Spannung. Wobei die dynamischen Extreme von Beginn an derart ausgelotet werden, dass man im Höchstbereich nicht in Block A sitzen möchte. Wie sich in Suks Werk enorme Klangpracht und Klanggewalt aber mit großer Transparenz und viel Raum für die Entfaltung der einzelnen Instrumente verbinden, lässt die selten gespielte Asrael-Sinfonie eigentlich wie gemacht für ein Orchester vom Rang der Berliner Philharmoniker erscheinen. 1992 wurde sie hier zuletzt gespielt, unter Simon Rattle.
Die Holzbläsermischungen haben mitunter was von Tschaikowsky, einige federnde Passagen was von Dvořák, gelegentliche Bizarrerien was von Berlioz oder Mahler; an Letzteren erinnert auch der Großaufbau mit zwei Abteilungen, zwischen denen eine lange, stille Pause liegt. (Die einzelnen Sätze in den Abteilungen nimmt Petrenko fast attacca.) Die Soli klingen alle bravourös, selbstverphilharmonisch. Hervorheben könnte man, wenn man wollte, Wollenwebers Englischhorn. Und Pan Stabrawas Einlagen im dritten und vierten Satz machen, wie die ganze strahlende Streicher-Abteilung, der Geigerdynastie Suk alle Ehre.
Allgegenwärtig ist das am Anfang präsentierte einfache Thema, das mehrfach auf denselben Ton zurück seufzplumpst und darum wohl ein Schicksalsmotiv sein muss – eine idée fixe des Werkes fast. Die fatale Tyche pocht auch in wiederkehrenden Ton- und Tonlosrepetitionen und Tritonus-Pärchen, die den Tod symbolisieren mögen. Der erste Satz ist voller Kontraste zwischen Verzweiflung und glühendem Lebensüberschwang. Es gibt schöne Begegnungen von Tuba und Flöten. Eindrucksvoll der anfangs wie erstarrte zweite Satz, mit einem nicht endenden immergleichen Trompetenton, der dann einen Trauermarsch anführt. Rhythmisch vertrackt der dritte Satz, der in einem Walzer mit Todesmotiv endet.
Aus ganz anderem Material dann der vierte Satz, mit dem zugleich der große zweite Teil beginnt: ein schmerzvolles Porträt der verlorenen Frau, heißt es. Und im Finale natürlich ein großer Kampf. Und so aufregend und mitreißend das Werk scheint, muss dieser schöne, aber süßliche Schluss mit hohen Violinen und Harfen (die Berührung eines Engels, sagt der Dirigent Tomáš Netopil) doch schon zu Suks Zeiten abgenudelt gewirkt haben: Gibt es etwas Abgedroscheneres als die erlösende Schlusswendung eines Misswende-in-Moll-Themas nach Dur?
Dass auch Suks Benennung des intimen Monumentalwerks nach dem Todesengel Asrael aus islamischem und jüdischem Volksglauben keine ganz glückliche Idee gewesen sein mag, deutet Malte Krasting in seiner informativen Einführung an.
Mag das Werk auch in seiner Klangentfaltung noch imposanter sein als in seiner Architektur: Hörenswert, ja begeisternd ist es allemal. Alles andere als eine Quotenrarität! In zwei Wochen macht Petrenko Mahler 6, die Verwandtschaften zu Suks Symphonie liegen auf der Hand.
Die Asrael-Symphonie gibts Freitag und Samstag nochmal, ausverkauft, aber auch live auf Deutschlandfunk Kultur (10.1.) und in der Digital Concert Hall (11.1.). Mehr Suk in Berlin, unausverkauft: mit Berliner Kammerphilharmonikern in kleiner Runde am Sonntag und mit dem vorzüglichen RSB, dem Spezialisten Jakub Hrůša und einer noch selteneren Suk-Symphonie am 26.1.