Klingonisch: Víkingur Ólafsson spielt Bach und Beethoven

Der isländische Ludwig van Bach, by Kelapstick

Angesichts der Tatsache, dass weltweit mehr Menschen Klingonisch als Isländisch beherrschen, ist es doch erstaunlich, dass es erheblich mehr isländische als klingonische Literaturnobelpreisträger, Fußball-WM-Teilnehmer, Pop-Ikonen, Neue-Musik-Ensembles und eben auch rising Klavierstars gibt: etwa Víkingur Ólafsson im Kammermusiksaal. Im ersten Teil steht Bach von verwirrender Unübersichtlichkeit auf dem Programm, über mehr als zwei Seiten erstreckt sich die Auflistung der Stücke. Der Beethoven im zweiten Teil ist dagegen von dubioser Stringenz: die allererste und die allerletzte Sonate.

Aber so allerletzt, wie die 32. Sonate c-Moll opus 111 noch immer oft gemacht wird, ist sie ja vielleicht gar nicht. Beethoven schrieb danach bekanntlich noch verdammt viel, fürs Klavier Diabelli-Variationen und Bagatellen, zu schweigen von den Streichquartetten und der Neunten und Missa Solemnis. Und er dürfte 1821/22 kaum vorgehabt haben zu sterben, auch wenn Thomas Mann das im Doktor Faustus in gewählteren Worten insinuiert hat.

Dennoch, jeder Musikliebende hat gewisse Leib- und Seelenwerke, und welches zu denen des Konzertgängers gehört, verrät ja der Titel dieses Blogs. Da werden dann nicht pingelige Detailangelegenheiten entscheidend, wenn mans hört, sondern diese eine und große Frage: Fühlt man das liebe Werk und somit sich, den Liebenden, vom aufführenden Künstler ernstgenommen? Klares Ja im Fall Ólafsson. Die wuchtig-wuchernden Nebel und die geradezu klingonischen Klagesphären im ersten Satz packen einen, aber mehr noch die Übergänge zwischen ihnen. Im zweiten Satz scheint Ólafssons ausgesprochener, fast forcierter Gestaltungswille problematischer. Im doppelten Irrealis gedacht: Wenn Beethoven 1.) noch lebte und 2.) hören könnte, würde er da nicht vielleicht gegen diese äußerst gedehnte Vorführung des Arietta-Themas einwenden: „Das ist ein Missverständnis, das Bedeutende an diesem Satz ist nicht das Thema selbst“? Schlicht und liedhaft kommt es hier keineswegs herüber.

Aber wie Ólafsson dann alles, was sich daraus ergibt, pianistisch umsetzt, bis in die allerapogäischsten Trillerumlaufbahnen, das ist von hervorragender Dichte. Nur die Dimension des Einfachen fehlt. Und vielleicht wäre die ja sogar das Wichtigste. Aber etwas muss sich ein junger Pianist auch für den Altersstil aufheben.

Außerdem ist Ólafsson von imposanter Coolness, diese Sonate vor Zuhörern wie Igor Levit in Block A so zu spielen, wie er es tut. Matthias Goerne und Peer Steinbrück müssen einen Pianisten wohl nicht so nervös machen. Gleichwohl zeigt dieses Aufdefilée im restlos ausverkauften Kammermusiksaal, dass der 34jährige Pianist derzeit at the peak of the hype ist; wobei dem Konzertgänger nicht restlos klar wird, warum gerade dieser (sehr Gute) und nicht andere (sehr Gute). Vor einiger Zeit hat er ihn schon mal im Pianosalon Christophori gehört.

Nachtrag- Igor Levit ist zufrieden:

Ólafssons manchmal fast übertriebener Gestaltungswille zeigt sich auch in Beethovens 1. Klaviersonate f-Moll op. 2, 1. Aber vielleicht ist hier das Maßlose, auch der Anflug von Ausdrucksprotzerei etwa im Adagio, noch angemessener, eben weil es jugendlich ist und gut zu dem damaligen Auftreten des 23jährigen furorierenden Neu-Wieners passen dürfte. Das Allegro mit hektischen, fast schrillen Akzenten ist von explosiver Motorik, die eigentlich gar nicht nach Haydn klingt. Im Menuett gibt es einen Klangrausch, in dem man sich eine Sekunde lang fast auf Spätwerkterrain wähnt. Das Prestissimo ist pure Angeberschule der Geläufigkeit, chapeau.

Ein Genuss zu hören ist zuvor auch der erste Teil, eine Stunde lang Johann Sebastian Bach. Auf die Gefahr, vom Orden der Heiligen Johann-Sebastianer verdammt zu werden, könnte ein oder der andere da eine gewisse Monotonie befürchten. Und tatsächlich verstärkt paradoxerweise gerade Ólafssons ambitiöse Gestaltungsgenauigkeit dieses Risiko bisweilen. Das Ausfeilerische zeigt sich auch in der Zusammenstellung neun nicht zusammenhängender BWV-Nummern, von der zweistimmigen Invention bis zum Cembalokonzert d-Moll (BWV 974), und nicht ohne Transkriptionen von Rachmaninow und Alexander Siloti. Hört man unvorbereitet dessen kuriose Ausakkordierung des e-Moll-Präludiums aus dem Wohltemperierten Klavier, könnte man meinen, man säße im falschen Film bzw auf dem Kopf. Aber Ólafsson hat ja zuvor das „echte“ e-Moll-Präludium gespielt. Raffinierterweise jedoch nicht direkt davor, sondern mit drei Stücken Abstand.

Besonders interessant die frühe Aria variata alla maniera italiana in a-Moll: Was man doch alles nicht kennt von Bach! Wie bei den meisten Bachstücken hier fallen die fast manierierten Anspannungen und Dämpfungen auf, die Hervorhebungen einzelner Töne, starken dynamischen Kontraste, Crescendi. Pedal wird nicht verschmäht, und doch ist der Klang immer klar. Nichts Nebensächliches gibt es nicht, und doch (bis zur Phantasie und Fuge a-Moll BWV 904) ein langer phantasierender Fluss. Auch auf die Gefahr hin, wie gesagt, dass das über sechzig Minuten auch mal usw.

Am berührendsten aber ist dann die Zugabe, ganz am Schluss, nach Beethoven 111. Da ist das Einfache, Selbstverständliche und doch tief Bewegende: Ólafsson spielt seine eigene Transkription von Bachs Widerstehe doch der Sünde. Und Kraft zum Widerstehen wünscht man auch diesem interessanten, sehr begabten Pianisten angesichts des bedenklich frenetischen Beifalls, der ins Peinliche und Groteske umkippt, als eine Raucherinnenstimme von oben kreischt: Sie sind ein Genie!

Weitere Kritik: Tagesspiegel

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8 Gedanken zu „Klingonisch: Víkingur Ólafsson spielt Bach und Beethoven

    • Würde eher sagen, ich bin hin, aber nicht weg. Der Beethoven war gewiss nicht der Weisheit letzter Schluss, aber muss es ja auch nicht sein mit 34. Auf jeden Fall hab ich ihm gern zugehört und es interessiert mich, wie er sich weiter entwickelt.

    • Das hat er auch gespielt im Konzert. Ok, wenn man es aus dem Zusammenhang rausschneidet (Mittelsatz des transkribierten Oboenkonzerts von Marcello), hat es was von Philipp Glass. Aber sein Glass gefällt mir auch, sehr sogar.

      • Bin immer noch nicht ganz überzeugt, wobei BWV 54 eindeutig was hat. Wobei „übertriebener Gestaltungswille“, hmm. Aber Sie sind der Klavier-Fachmann. Der träumerische Intellektualismus – in Ermangelung eines besseren Begriffs mal auf die Schnelle hingesagt – hat was von G. Gould.

        • Ja, vielleicht trifft der Ausdruck nicht ganz, was ich im Konzert empfand. Eher so eine asymmetrische Strukturiertheit, manchmal fast willkürlich scheinend, dann wieder schematisch, einige übermäßige Forcierungen. Hm, die Begriffe machen es alles noch schlimmer. Es ist nicht so extrem wie Gould, natürlich, und der „isländische Gould“ ist furchtbares Marketingsprech, andererseits nicht ganz an den Haaren herbeigezogen.

    • Jaaaa, mag sein, er ist jedenfalls weder András Schiff noch Bachhistorizist, aber ich finde es ernsthaft und schön. Im Konzert – die Einspielungen kenne ich nicht, außer der jetzt, die ich zum Einbinden ins Blog herausgesucht habe.

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