Auf circa 777mal Schostakowitsch gibts in unserem Konzertleben einmal George Enescu. Oder auf immerhin noch 77mal Max Bruch, mit wohl abnehmender Tendenz. Wann wird zumindest Enescu-Bruch-Egalität erreicht sein? Einen Schritt in diese Richtung macht das Rundfunk-Sinfonieorchester unter Peter Ruzicka im Konzerthaus.
Nur nicht ganz leicht, dahin zu gelangen! Denn Mitte ist dicht. Die alte Krawallschachtel Erdoğan scheint stundenlang die Linden rauf und runter zu kutschieren. Aber mit dem Fahrrad kommt man immer irgendwie durch. Ich wünschte, ich hätte auch eins, rührt eine eingeklemmte Taxifahrerin das Herz des Konzertgängers.
Wie gut Bruchs 1. Violinkonzert g-Moll von 1866 ist, merkt man so richtig, wenn man tags zuvor sein 50 Jahre später entstandenes, ziemlich murksiges Doppelklavierkonzert gehört hat, das die Berliner Philharmoniker derzeit dreimal spielen. (In welcher Stadt gibts noch Freitagabende, an denen man die Wahl zwischen zwei Bruch-Konzerten hat?) Er war wohl doch ein One-Hit-Wonder wie Johann Pachelbel oder Vanilla Ice.
Der australisch-taiwanesische Schwiegermuttertraum Ray Chen spielt Bruchs Konzert mit jenem satt-, keinesfalls aber blattgoldenen Geigenton, der der 9jährigen Tochter des Konzertgängers ebenso ideal erscheint wie der 90jährigen Bruch-Veteranin. Mit Vibrato kargt Chen mitnichten. Wie könnte man das nicht gern hören, selbst wenn man im Finale allmählich goldsatt sein sollte? Obgleich die Sogwirkung des Bruchkonzerts aufs Publikum doch nachzulassen scheint, sollte man es also keinesfalls derepertoirisieren. Denn erstens ist es einfach schön. Und zweitens gehört sichs nicht, den letzten Finger abzupulen, mit dem sich einer im Repertoire festklammert.
Schande dem Scheußlichen, fasst Steffen Georgi das ästhetische Ideal des im Lauf seines Post-Violinkonzert-Lebens wohl zunehmend verbohrten Max Bruch zusammen. Sollte man es in den nächsten Nächten irgendwo in der Ferne hecheln hören, dann ist es gewiss das Scheußliche, das immer noch vor Ray Chen und dem güldensatten Ton des RSB auf der Flucht ist.
Als Zugabe spielt Chen (der also auch vibratoarm kann) dieses Bachstück, das der Balalaikaspieler hinter der Philharmonie immer spielt, sowie irre virtuos Paganinis irre Caprice Nummer 21. Die eigentliche Zugabe ereignet sich aber schon zuvor, als Chen beim Nachstimmen von der Blumenträgerin überrascht wird und vor ihr eher casanova- als paganinihaft niederkniet, sie dann stürmisch umarmt und schließlich den Strauß einer Dame im besten Alter in der ersten Parkettreihe schenkt. Wenn das André-Silberschlager-Charme sein sollte, dann doch spontaner, ehrlicher, zu Herzen gehender.
George Enescu aber – dem sollte man doch mal einen oder zwei Finger im Repertoire erlauben! Selbst wenn die Aufführung unter Ruzicka, der vielleicht nicht zur dirigentischen Süper Lig gehört, nicht in jedem Winkel vollkommen sein mag. Enescus Fragment Nuages d’automne sur les forêts (1935) ist voller erlesener Klangmischungen und von so ekstatischer Verve, dass es einem einen Glücksstoß nach dem andern durch den Leib jagt. Zur bio-zertifizierten Leitmotivik der aktuellen RSB-Saison passts überdies; mit freundlichen Grüßen an RWE.
Und Enescus dreisätzige 4. Sinfonie e-Moll, unvollendet 1934 und nach der Fertigstellung durch Pascal Bentoiu erst 1997 in Bukarest uraufgeführt, scheint ein charismatisches Werk zu sein. Es strömt mit solcher Energie, das ist Musik wie fließendes Feuer. Der dichte Orchestersatz und die ständig wechselnden Farbmischungen des ersten und letzten Satzes stellen das Orchester hörbar vor ernstere Kohäsionsprobleme als Bruch, aber der Eindruck ist dennoch enorm. Apartissimo wirkt auch der Mittelsatz, zwischen Tanz und sinistrem Marsch, in denen nächtliches Tierleben wimmelt. Jedes Instrument tritt hervor wie ein seltener Vogel, Ohrwürmer aber bleiben nur Durchgangsstationen, aus denen’s sogleich weiterchamäleonisiert. Eher Konzert für Orchester als sinfonischer Binnensatz.
Vielleicht schlägt so eine Enescu-Programmierung auf die Auslastungsbilanz, dennoch ist es Aufgabe eines öffentlich geförderten Orchesters, das Publikum mit solcher Musik zu verfolgen. In dessen eigenem Interesse, denn es ist ein hoher Genuss.
Ruzicka scheint nicht nur (noch?) eine Art dirigentisches Monopol auf Enescu-Sinfonien zu haben, es gibt den Ruzicka-Enescu auch immer im Paket mit Ruzicka-Ruzicka: Peter Ruzickas Elegie (2014) steht also am Beginn des Abends. Dass ein dirigierender Komponist auch regelmäßig sich selbst dirigiert, dagegen ist auch gar nichts zu sagen.
Ausgangspunkt der Elegie, die die etwas unsägliche Widmung In Wagnertreue (an Christian Thielemann) trägt, ist Richard Wagners unmittelbar präletales „Porazzi-Thema“, in dem Georgi Wagners unüberhörbare Libido entdeckt. Na, solange’s nicht des Meisters Prostata ist. Wie dem auch sei, man muss das Thema nicht kennen, denn die goldtristanesken Intervalle und Harmonien identifiziert man auf Anhieb. Sie entstehen aus einem eröffnenden Nichtsklang, der beinah im Füßescharren des Publikums untergeht. Wenn die Musik immer wieder in diese Stille zurückfällt, meint man gar Wagners Zirbeldrüse zu vernehmen. Aber trotz ihrer Kürze hat sie Momente von berührender Weite, diese Wagner-Geister-Variation. Auch wenn sie als Ganzes doch etwas zusammengestrickt wirkt und sich der Zusammenhang der Komponisten Ruzicka/Bruch/Enescu im Programm nicht recht erschließen will.
Hallo Herr Selge,
wegen Enescu hatte ich mir auch eine Karte besorgt, aber ich kriegte einen fürchterlichen Hustenvirus ab, sodass ich dem Konzert fernbleiben musste. Ich denke, ich hätte sonst ein schönes Ärgernis für alle anderen abgegeben. Aber klare Zustimmung: Es gehört mehr Enescu auf den Spielplan.
Waren Sie schon einmal beim dem Festival seines Namens in Bukarest? Ich habe nur Gutes darüber gehört und überlege, im nächsten Jahr einmal hinzufahren.
Ja, auch Enescus Kammermusik fand ich immer sehr lohnend, wann immer ich was gehört habe. Zum Beispiel bei Spectrum Concerts. In Bukarest war ich leider noch nie. Das Festival wird ja von Vladimir Jurowski geleitet, dem RSB-Chef, das ist sicher auch im Hintergrund der Enescu-Programmierung hier. Noch lieber als von Ruzicka hätte ich Enescu von Jurowski gehört.
Habe mich wegen Bruch und Wagner-Ruzicka schweren Herzens gegen das Konzert entschieden. Enescu höre ich sehr gerne!
Auch als Solist ist Enescu entdeckenswürdig, zumindest wenn man den zeittypischen Samt-und-Seide-Stil nicht verabscheut:
https://www.youtube.com/watch?v=Kww_jJloX5I
Das pure Gegenteil von Hillary Hahn.
Er war ja Lehrer von Grumiaux und Menuhin!
Vielleicht war die Geige das Motiv, seine Sinfonie mit Bruchs Konzert zu koppeln? Sicher keine ideale Verbindung. Da müsste es doch andere Werke geben, die sich mit Enescu gegenseitig befruchten (und nicht den Saal komplett leerfegen).