Reformationstag oder Halloween? Sowohl als auch: 100 Jahre Oktoberrevolution.
In zwei Berliner Konzerten kommt sie vor: Einmal als ferner Gast, aus Inferno-Tiefen betrachtet beim Deutschen Symphonie-Orchester unter Rafael Payare. Einmal als Hauptperson, aus größter Nähe und unendlicher Weite zugleich in einem aufregenden Programm des Ensemble unitedberlin unter Vladimir Jurowski.
Dmitri Schostakowitschs 10. Sinfonie e-Moll: uraufgeführt 1953 in Leningrad genau 9 Monate und 12 Tage nach Stalins Tod, jetzt beim Casual Concert des DSO mit anschließender hip-heimeliger Lounge im Foyer der Philharmonie. Sic transit horror mundi! Aber das Grauen wiederaufersteht in Schostakowitschs Sinfonie, diesem doppel- und dreifachbödigen Höllenritt in die Abgründe der Geschichte und der menschlichen Seele. Markerschütternd dieser dritte Satz, indem der elende, jämmerliche, ruhmreiche DSCH in Reih und Glied mitmarschiert und in der Manege herumgeschubst wird, schreit und kreischt und stöhnt und piepst und fiepst und aus dem letzten Loch pfeift, wie eine abgemurkste Maus (Flöte Cornelia Brandkamp).
Der Venezolaner Rafael Payare kennt das Stück durch und durch, er dirigiert auswendig und mit ausladender Genauigkeit und energischer Theatralik, die bei älteren Dirigenten nerven könnte, aber hier völlig authentisch wirkt. Sehr gespannt, ihn hoffentlich bald wiederzuhören in Berlin! (Wiederhören mit der Zehnten: Schon am Freitag beim RSB möglich. Ist diese Programmplanung der Rundfunkorchester nun besonders gefinkelt oder bloß gedankenlos?)
Schade, dass die Einführung, die laut Programmankündigung auf Deutsch stattfinden sollte, auf Englisch ist. Die Casual Concerts des DSO sind eine prima Reihe, aber unter den Besuchern wird diesem und jenem die nötige Polyglottesse fehlen, um da zu folgen. Verständlich, dass der Nichtmuttersprachler Payare vor dem komplexen deutschen Vortrag zurückschrickt, aber könnte ihm da nicht jemand Eloquentes vom Orchester verdolmetschend zur Seite springen?
Ein Sprachproblem, das es in Benjamin Brittens Quatre chansons françaises (1928) nicht gibt. Die Sopranistin Christiane Karg stellt die Lieder so liebevoll vor, dass man schon in den Einführungsworten die Atmosphäre etwa einer duftenden Sommernacht spürt. Und wenn sie nun erst singt, da spricht und springt die Musik einen ganz von selbst an! Eine wunderbare Interpretin einer staunenswerten Musik. Beklemmend L’enfance, wo ein Kind singt, während die Mutter stirbt. Auf andere Weise beklemmend, wenn man in Sagesse plötzlich die Frage hört: Dis, qu’as-tu fait, toi que voilà, de ta jeunesse, was hast du mit deiner Jugend getan? Jedenfalls keine Verlaine-Gedichte im Debussy-Stil vertont wie der 14jährige Britten, muss der Konzertgänger sich eingestehen.
Beklemmend auch der schöne Chanson d’Automne, wenn man seine Gedanken mal völlig frei zum russischen Herbst hinüberschweifen lässt.
Richtig tief in diese Materie gehts im Programm Roter Oktober des Ensemble unitedberlin unter der Leitung von Vladimir Jurowski. Die Reihe des EUB im Werner-Otto-Saal ist ein Juwel in der Dachkammer des Konzerthauses. Sechs dunkelrote Herbstwerke gibts da zu hören, von der flüssigstählern glühenden Utopie der Maschinenmusik Die Eisengießerei von Alexander Mossolow (1927) bis zur sarkastischen Posthoffnungswelt in Vladimir Tarnopolskis Tschewengur (2001).
Die Mezzosopranistin Alexandra Lubchansky spricht, heult sirenenhaft, giekst, gackert, schnalzt und zischt die von Tarnopolski komponierten Platonow-Texte, dass die Scheiben des Werner-Otto-Saals klirren und die Blechplatte im Ensemble donnert. Außerordentlich, wie Tarnopolski diese ständig sich wandelnde Stimme mit dem ständig sich wandelnden, dabei immer nervös flirrenden Ensemble verwebt: fast zynisch desillusioniert, so der erste Höreindruck, und zugleich eine lebenshungrige Survivaltechnik. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Ein reiches Stück, das man liebend gern zweimal gehört hätte.
Lubchansky entzückt mit Witz und Energie ihrer Stimme auch in Mossolows Liedern von 1926, die keine Liebes- oder Naturlyrik vertonen, sondern … vier Zeitungsannoncen! Da hört man von Blutegeln, da tönt das Harfenarpeggio vom entlaufenen Hund und dräut die Posaune mit Dies-irae-Flair die Dienste eines rattenvertilgenden Kammerjägers an. In Anton Safronovs Majakowski-Liedern (2005/2013) schmiegt die Stimme sich indes mit der Geige ineinander und treibt auf einem melancholischen bis endzeitlichen Ozean, in dem Bassflöte und Bassklarinette tiefe Wellen schlagen.
Zwei schrullige Post-Utopien prägen sich besonders nachdrücklich ein: In Boris Filanovskis Polyphonion (2001) führen sechs Instrumente paarweise Diskussionen, herausgehoben treten das Akkordeon von Christine Paté und die „erweiterte Violine“ von Vladimir Pesin auf: ein Spezialbau mit fast flachem Steg und halbmondförmigem Indianerbogen, an dem die Haare schlabberig herunterhängen. Bizarre Herabseufzeklänge und Vierfachgriffe entstehen da und aufs Ganze betrachtet eine eigenartige Sinfonia concertante voller Witz und Understatement.
Voll von fast tonloser Motorik sind schließlich Alexei Sioumaks Parovoz Structures (2005): eine transzendierte Dampfmaschine, die Lok des Fortschritts und der Utopie auf dem Abstellgleis. Flöte und Klarinette dampfen, die Posaune flappert im Kessel, die Streicher streicheln, kratzen und beächzen die Gleise. Traurige, reduzierte, berührende Geschichtsphilosophie scheint das zu sein.
Und während man Vladimir Jurowskis filigraner Fingerarbeit zusieht, denkt man staunend daran, dass Ernest MacMillan 1932 das Toronto Symphony Orchestra bei Mossolows Eisengießerei mit einem Schraubenschlüssel dirigierte.
Was für ein originelles, durchdachtes, kurzweiliges Programm aus völlig unterschiedlichen, aber miteinander kommunizierenden Stücken, jedes unmittelbar ansprechend, aber nie banal. Zum Programm.
Das nächste Konzert des Ensemble unitedberlin am 27. Februar wird dem Konzertgänger von einer hoch-neue-musik-kundigen Bekannten schon wärmstens ans Herz gelegt. Dunkelrote Juwelen in der Dachkammer des Konzerthauses.