Die Kombinationen machens, und mehr noch die Kombinationen der Kombinationen. Im Pierre Boulez Saal kombinieren der Bratschist Nils Mönkemeyer und der Pianist William Youn Altes und Neues, Mozart mit Sciarrino, Schubert und Brahms mit Boulanger, Chin, Pintscher. Vor allem aber kombinieren sie die Kombination Viola & Konzertflügel mit der Kombination Viola & Hammerklavier. Lauter Traumkombinationen sind das.
Aber am allerobertraumhaftesten ist die letzte. Mönkemeyers Bratsche und der Hammerflügel vom Bamberger Klavierbauer J.C. Neupert sind genau richtig aufeinander eingetönt. Der Hammerflügel klingt selbst wie ein Zupfinstrument, wenn er im ersten Satz von Franz Schuberts Sonate a-Moll D 821 (1824) mit den Bratschenpizzicati parallel läuft. Und wenn emotionale Ausbrüche so subkutan klingen wie hier, brennen sie um so heftiger unter der Haut.
Allerdings würde man doch gern mal diesen eigenartigen Arpeggione hören, das vergessene Modeinstrument, für das Schubert seine Sonate ursprünglich schrieb.
Die davor zu hörende Kombination von Wolfgang Amadeus Mozart und Salvatore Sciarrino ist ein Geniestreich. Steht Mozarts Modulierendes Präludium (1776/77) tatsächlich in der geheimnisvollen Tonart deest? Ach nein, KV deest bedeutet bloß, dass es im Köchelverzeichnis nicht auftaucht. Es moduliert von F-Dur nach e-Moll, aber am Hammerflügel klingt es doch ein bisschen nach deest. Gleich am Anfang gehts ganz nach unten, wo Schluss ist, d.i. auf dieser Tastatur beim Kontra-F, denn Subkontra deest auf dem Hammerklavier. Unvorstellbar, dass es noch tiefer gehen könnte.
Die Kombination von Liebeskummer und Klavierunterricht in Mozarts Hélas, j’ai perdu mon amant-Variationen KV 360 (1781) ist für sich schon reizend. Aber wenn Hammerklavier und Bratsche sich begegnen, begibt sich das Hörerherz flugs down to the peak of Herbstmelancholie. Oder up to the bottom, weils so zauberspröde-farbenreich klingt. Youns Bearbeitung der Violinstimme für Bratsche klingt schlüssig: die Dur-Variation V fast zu fein für diese Welt, die Bewegung der Moll-Variation VI in ihrer Gedämpftheit um so heftiger.
In dieser Feinheit und gedämpften Heftigkeit berühren sie sich mit den beiden Notturni brillanti für Viola solo von Sciarrino (1974/75), die Mozart rahmen: als Schatten hinter Mozarts Werken, wie Mönkemeyer wunderbar sagt, Musik, die aus der Stille heraus flüstert. Aber es ist doch eine brodelnde Stille, Sciarrinos Nacht ist überaus belebt, es wuselt an der Grenze zur Stille.
Zum Nachhören für die Besucher, die dabei kichern mussten:
Nach diesem Grenzgang an die Stille und in die feinen Register des Hammerklaviers fühlt sich ein moderner Konzertflügel wie ein SUV an. Aber der Steinway fährt toll und liegt sicher in den Kurven.
Die Kombination funzt auch deshalb, weil zwei so originelle Klavierwerke folgen: Zuerst die willkommene Gelegenheit, mal eine Komposition von Nadia Boulanger zu hören, der legendären Pädagogin. (Werke ihrer Schwester Lili gabs mal beim RIAS Kammerchor.) Kurios, dass Vers la Vie nouvelle (1917) von allen Stücken des Abends am „männlichsten“ klingt. Säße man dem donnernden Beginn in der U-Bahn gegenüber, würde man neuerdings von Manspreading sprechen. Danach faltets sich atmosphärisch und in klar gegliederten Abschnitten auf. Unsuk Chins eindrucksvolle Piano Etude Nr. 5 (2003) klingt dagegen mit ihrer Staccato-Toccata-Linie, bei der man um Youns Fingerspitzen fürchtet, gar nicht nach Mann, sondern nach Ligeti. Und der ist bekanntlich weder Mann noch Frau, sondern Halbgott. Das folgende Solobratschenstück In nomine (1999) von Matthias Pintscher wirkt im Vergleich mit Sciarrinos atmosphärischer, geheimnisvoller Klangwelt gelehrt, ja geradezu enzyklopädisch.
Johannes Brahms‘ ganz späte Sonate Es-Dur op. 120, 2 (1894) hat gar nichts mehr vom Manspreading des Frühwerks, auch wenn der Steinway hier in Subkontragründe hinabsteigt. Youn gibt genug Brahmsbass, ohne je zu dröhnen. Mönkemeyer spielt im ersten Satz nicht die von Brahms tiefergelegte Bratschenfassung, sondern behält die Höhen der originalen Klarinettenfassung bei. Was dem hellen Kopfsatz (amabile) etwas Fragiles, ja Gefährdetes gibt.
Man hält den Atem an, wenn die Bratsche dann in den Außenteilen des Mittelsatzes sich kurz vor der Erstarrung aussingt, als gings um ihr Leben. Und auch in den gläsernen Passagen des Schlusssatzes, so jenseitig wie weltbejahend, glaubt man dieser nachgeschobenen Bratschenfassung gern.
Und auch diesem zarten Steinway.
Selbst wenn die Zugabe zeigt, dass so ein Ding nie an ein Hammerklavier heranreichen wird, das sich hier durch welchen Pedalwechsel auch immer in ein fernes Register von Zither und Gamelanhauch verwandelt: in einem meditativen, herbstlichen, betörend schönen Stück der griechischen Komponistin Konstantia Gourzi. Wie dieser Ohrwurm sich wiederum mit Sciarrino berührt, das berückt. Die Kombination machts. Ganz große Kammermusik von Mönkemeyer und Youn.