Basskreiselnd: Mussorgskys „Boris Godunow“ an der Deutschen Oper

Dieser neue Boris Godunow an der Deutschen Oper hat ein offensichtliches und ein offenhörliches Zentrum. Das offensichtliche ist ein bunter Kreisel: kein Brummkreisel, sondern ein schaurig stummer. Das offenhörliche sind die farbigen Bässe: keine Brummbässe, sondern melosströmende.

kreisel 1

Ein überdimensionierter Kreisel leuchtet schon, bevor der erste Ton erklingt, auf dem Vorhangschoner. Auf der Bühne begegnet der Kreisel sogleich wieder: in den Händen des achtjährigen Zarewitsch Dimitrij, dessen Ermordung durch Godunows Schergen den Hintergrund der Opernhandlung bildet. Indem dieser erinnerte Mord im Hintergrund wieder und wieder stattfindet, gerät er in den Vordergrund der Inszenierung von Richard Jones. Später, als Godunows Gewissensqualen die höchste Brandstufe erreichen, kreiselt der Kreisel dann ganz ohne Kind am vorderen Bühnenrand von links nach rechts.

kreisel 2Der Kreisel fokussiert den Godunow aufs fetischistische Seelendrama eines Kindermörders. Er wird nicht, was doch nahegelegen hätte, zum Symbol der ewig sich wiederholenden gewalttätigen Geschichte, selbst wenn Boris Godunows Sohn Fjodor am Ende der Oper seinerseits im Hintergrund abgemurkst wird. Der Kreisel dreht sich nur, wenn das Individuum Boris Godunow mit seinen moralischen Schwindelgefühlen im Zentrum steht, nicht aber im Hintergrund der rotierenden, am Rad der Geschichte drehenden und durchdrehenden Volksmasse, die doch neben Godunow die zweite Hauptfigur von Mussorgskys Oper bildet. Durch diese Fokussierung (oder Verengung) hängen die großen Chorszenen etwas in der Luft, wie auch der Sinn der Vielzahl an handelnden Personen sich nicht immer erschließt. Auch wenn die einzelnen Figuren hier prägnant gezeichnet und gut unterscheidbar sind.

Allerdings ist der Kreisel auf subtile Weise auch sonst gegenwärtig: etwa in der entsprechenden Farbgebung der Kostüme (Nicky Gillibrand) oder im Besäufnis der beiden Mönche in Szene 4, die sich Wodka um Wodka kippend wie Kreisel um sich selbst drehen.

Die sehr professionelle, flüssige, auch die komischen bis bizarren Seiten des Godunow betonende Inszenierung läuft bereits seit einem Jahr an der koproduzierenden Covent Garden-Oper (darum also ein Kreisel, damals wusste die Welt ja noch nichts vom fidget spinner). Bei der Berliner Premiere glänzt Regisseur Jones durch Abwesenheit. Falls ihn wer kennt, bitte ausrichten: solider Applaus, keinerlei Buh-Rufe. Schade übrigens, verdirbt immer ein bisschen die Premierenstimmung, wenn niemand buht.

kreisel 3Aufschlussreich für den Konzertgänger ist der direkte Vergleich mit dem Boris Godunow, den er vor drei Wochen am Moskauer Bolschoi-Theater erleben durfte: Die Moskauer Inszenierung von 1948 (!) ist machtvoll, aber witzlos. Die Berliner Inszenierung ist gewitzt, aber nicht immer machtvoll. In Moskau vier surreal „realistische“ Bühnenbilder, in Berlin ein einziges Bühnenbild mit Wänden voller Glocken und zwei Etagen (Miriam Büther), egal ob Kathedrale oder Palast oder Spelunke. In Moskau drei Pausen, in Berlin null. In Moskau ein hochdramatisches Überweib im Kessel, in Berlin fast frauenfreie Zone. Dort gab es nämlich Mussorgskys erheblich erweiterte Zweitfassung von 1874, hier den schon lange nicht mehr vergessenen „Ur-Boris“ von 1869. Der aber auch gut zwei Stunden dauert.

So dominieren hier die Bässe noch stärker als sonst den Sound. Der Este Ain Anger liefert als Boris Godunow ein eindrucksvolles Rollendebüt ab. Sein beweglicher Bass hat Volumen im Überfluss, aber Anger stellt es nicht aus: Kein leidendes Röhren und Rauschen, sondern ein differenziertes Rollenporträt, in dem Boris als liebevoller Vater und fürsorglicher Herrscher den dämonischen Usurpator und Kindermörder stellenweise fast vergessen lässt. Klingt jetzt schon sehr gut und wird noch spannender werden, wenn sich Anger mit seiner schönen, mächtigen Stimme weiter entwickelt und noch mehr wagt.

Anger ist der einzige Gast, alle anderen Sänger gehören zum Ensemble. Darauf kann die Deutsche Oper sich an diesem Abend schon was einbilden.

Nicht etwa weil Anger schwach wäre, sondern weil Ante Jerkunica so stark ist, fegt der greise Mönch Pimen den Zaren locker von der Bühne. Bei solch melodischer Prophetenwucht kann jeder Unheilige einpacken. Alexei Botnarciuc glänzt als wunderbar wendiger, sehr komischer Sauf-Mönch Warlaam. Der Bassbariton Dong-Hwan Lee überzeugt als Schtschelkalow.

Der große Antipode dieser geballten Bassfront ist nicht etwa der Chor der Deutschen Oper, der seine Sache recht gut macht, präzise, fein abgestuft, ohne Wackler und entgleisende Lautstärke, wie man sie zuletzt gelegentlich hörte. (Dass das geknechtete Volk in der ersten Szene so gelangweilt, ja angeödet von der ewigen Knute erscheint — ist das etwas, was dem Chor gelingt oder was ihm passiert? Wirkt wie ein stringenter Einfall, dieser Ennui der Unterjochten, auf den die Inszenierung dann aber nicht mehr zurückkommt.) Großes Lob speziell für den Kinderchor.

Antipode der Bassfront sind auch nicht die rührigen Tenor-Widersacher: Robert Watson als von spürbarer Unruhe getriebener Novize und Thron-Prätendent in spe Grischka Otrepjew. Der DO-Fiesling vom Dienst Burkhard Ulrich als intriganter Zarenvertrauter Schuiskij mit fettigen Haaren und wunderbar öliger Stimme. Und der herausragende Matthew Newlin als Gottesnarr mit fließendem Gaga-Melos und Eimer auf dem Kopf.

Schon gar nicht Antipode sind die Frauenstimmen knapp oberhalb der Wahrnehmungsschwelle — auch wenn das, was man von den marginalen Rollen wahrnimmt, tadellos tönt: Alexandra Hutton als Godunows irrlichternde, verwitwete Tochter Xenia, Ronnita Miller als deren Amme, Annika Schlicht als Schankwirtin.

Auch das Orchester der Deutschen Oper unter Leitung von Kirill Karabits ist, trotz leidenschaftlichem Engagement und prima Kohärenz, nicht der große Antipode. Karabits setzt nicht auf Naturgewalt, russische Seele, archaische Wucht usw, wie es das Klischee vom ungebildeten Mussorgsky verlangt, sondern verdienstvollerweise auf differenzierte Farben und fließende Melodik und klingt dennoch authentisch; das Englisch-Horn wird glatt zum Russisch-Horn. (Farben und archaische Gewalt wäre natürlich das Höchste der Gefühle.)

Nein, zum großen klanglichen Antipoden der Bässe wird die Stimme eines Kindes. Den Godunow-Junior Fjodor nicht als Hosenrolle zu besetzen, sondern mit einem Knabensopran von der Chorakademie Dortmund, hat eine starke Wirkung. Der junge Philipp A. macht das ganz hervorragend auf dieser großen Bühne, in diesem riesigen Saal. Man hört in seiner Stimme das Echo des ermordeten ersten Zarewitschs. Hoffentlich hat der Junge eine gute psychologische Betreuung, nachdem er sich zu später Stunde schließlich selbst die Kehle durchschneiden lassen muss. Den Opernabend rundet diese grausige Schlusspointe ab. So dreht sich der Kreisel stringent im Kreis.

Fünf weitere Aufführungen bis zum 7. Juli.

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3 Gedanken zu „Basskreiselnd: Mussorgskys „Boris Godunow“ an der Deutschen Oper

  1. na, das hört sich ja ganz gut an, auch wenn ich schon zumindest eine eurphorerische Kritik gelesen habe. Bin dann auf Freitag gespannt, denn sicherlich wird es sich, wie fast immer wieder steigern

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