Zweimal Adventssingen der besonderen Art: Der Bariton Dietrich Henschel stellt im Konzerthaus zwölf von ihm selbst in Auftrag gegebene Weihnachtslieder der Gegenwart vor. Der Countertenor Andreas Scholl loungiert sich im Kreuzberger Watergate-Club durch die Jahrhunderte. Musikalische A(d)ventiuren!
Während am Gendarmenmarkt das terroristensicher einbetonierte Weihnachtsmarkt-Vergnügen knistert und im Großen Saal der Dresdner Kreuzchor tiriliert (der, so Joachim Gauck, seit Jahrhunderten die Seelen der Menschen zu ernähren vermöge), lassen wir gegenwartsmusikgierigen Hirten uns vom Felde in den hübschen Werner-Otto-Saal locken, im Konzerthaus ganz oben rechts. Da hört man zwar öfter mal durchs verdunkelte Fenster die Polizeisirenen – oder sinds die Sanitätersirenen für überglühweinte Marktbesucher? Aber die können das Vergnügen an Dietrich Henschel nicht mindern. Zwölf Fünfminüter hat er in Auftrag gegeben, die sich alle, wie auch immer, auf Weihnachten beziehen sollten. Hier nun also die Weltpremiere! Die älteste Komponistin ist 76, die jüngste 32. Fünf Frauen, sieben Männer übrigens, eine ansehnliche Quote.
Es liegt in der Natur der Sache, dass einige der hier begegnenden Klangwelten mehr als ein paar Minuten bräuchten, um sich wirklich zu entfalten. Als Qualitätsbarometer bietet sich immer die Frage an, welches Stück man am liebsten sofort nochmal hören würde. Und auch da fällt die Quote erfreulich aus: Annette Schlünz‘ La blancheur abolit le temps etwa scheint raffiniert nah am Text von Paul Willems, das ist Musik, die auf stringent wirkende Weise ereignisreich ist, voll leiser Schärfe. Manfred Trojahns Christmas Greetings from a Fairy to a Child nach Lewis Carroll sind ein hinterlistiger Ohrwurm von doppelbödiger, zwietonaler Schunkeligkeit.
Zwei Gegenpole im Programm, hier tiefer Ernst, dort höchste Freude: Erstere in Olga Rayevas religiös atmendem Sotto voce, mit tremolierendem Kirchenslawisch über instrumental imitierten Brummelglocken und Kathedraltürknarzereien. Letztere in Jost Liebrechts fingerschnippender, swingender, trapsender Nummer Christmas/Weihnacht. Anderes überzeugt auf Anhieb weniger, etwa Detlev Glanerts Stille-Nacht-Zerschnipselung Stille oder Arno Waschks etwas mau satirische Gaudi Frohes Fest. Ganz zweifelhaft scheint Jamie Mans Geburt. Diesem Stück liegt ein faszinierendes Prosastück von Peter Stamm zugrunde, das in nüchterner Beschreibung den Vorgang einer Geburt beschreibt – und gerade in seinem äußerst sachlichen Ton eine geradezu mystische Wirkung erreicht. Zerstört aber nicht Mans allzu dräuende Musik diesen Effekt komplett?
Ein einsamer musikalischer Höhepunkt schließlich: José-Maria Sanchez-Verdús White Silence nach einem niederdeutschen Volkslied des 15. Jahrhunderts, inspiriert von Breughels allzu berühmtem Winterbild (Sanchez-Verdú war offenbar auch in Claus Guths Inszenierung von Beat Furrers Violettem Schnee an der Staatsoper letztes Jahr). Hier spürt man geradezu den Schnee des Quattrocento, von ferne, ferne, das sind Klänge von fast sciarrinoesker Wisperigkeit. Die Gegenwartsspezialisten vom ensemble unitedberlin sind gerade die Richtigen für diese musikalischen Bereiche. Die Bude ist rappelvoll, wie immer, wenn der Artistic Advisor des Ensembles mitmacht, kein Geringerer als Vladimir Jurowski, dieser skrupulöse Workaholic, der tags darauf nichts Geringeres als Bruckners Dritte dirigieren wird (Kritik bei Schlatz). Und dann ist da eben diese Sängerpersönlichkeit von Dietrich Henschel: ein flexibler Gestalter und hochintelligenter Textdeuter, witzig und klug, charakteristisch und doch immer den Kompositionen dienend.
Was man, bei völlig anderer Temperaments- und Stimmlage, auch von Andreas Scholl sagen könnte. Der Countertenor tritt mit seiner israelischen Partnerin am Klavier, Tamar Halperin, in der von rbb Kultur veranstalteten Reihe Klassik-Lounge im Watergate auf, mit schönem nächtlichen Spreeblick.
Von englischen Folksongs der Renaissance bis zu Alban Bergs Frühwerk Ferne Lieder spannt sich der musikalische Bogen. Und vielleicht täte im meditativen Groove das eine oder andere Störfeuer ganz gut, wie es sich immerhin einmal mit John Cages Jazz Study für Klavier ereignet. Andererseits weiß die wunderbare Tamar Halperin mit ihrer feinen Kunst der Unregelmäßigkeit auch ein abgenudeltes Stück wie Saties 3. Gymnopédie zu einem Ohrenspanner zu machen.
Und dann sind da noch die versteckten Störfeuer, ebenso wie überraschende atmosphärische Assonanzen. In Ari Frankels The Rest singt Scholl – wie stets mit äußerst sparsamem Vibrato – betörend lange Töne, während auf der Spree ein siebenfarbig leuchtendes Boot vor dem Universal-Gebäude entlanggleitet. Was Frankel da aber vertont hat, ist nichts anderes als ein Text des Shoah-Überlebenden Primo Levi, dieses großen Zeugen der unendlichen Schrecken, die Deutsche im 20. Jahrhundert über die Welt gebracht haben.
Und während Andreas Scholl später Clemens Brentanos Es sang vor langen Jahren wohl auch die Nachtigall vorträgt, vertont von Arvo Pärt, gleitet lautlos die U-Bahn über die Oberbaumbrücke. Der Spinnerin Nachtlied, #weilwirdichlieben. Auf eine schöne Melodie des israelischen Popstars Idan Reichel schließlich haben Scholl und Halperin den Text In stiller Nacht, zur ersten Wacht des jesuitischen Barockdichters Friedrich von Spee gelegt, den auch Brahms vertont hat; da ist es, als spannten die Jahrhunderte weit ihre Flügel auf, und es ist alles, alles gut.