Che città, che città, che costumi, che gente sfacciata ed insolente! Was für eine Stadt, was für Sitten, was für dreiste und pampige Leute! Dieses hübsche Rezitativ von Francesco Cavalli gehört zum Programm, mit dem der Countertenor Philippe Jaroussky sich nach einem Jahr als Artist in Residence des Konzerthauses von Berlin verabschiedet. Nachdem er vor fünf Wochen den vorgesehenen Saisonhöhepunkt bronchitishalber absagen musste (seine Vertreterin machte das Konzert dennoch zu einer Sternstunde), hat er sicht- und hörbar erholt eine Schatzkiste voll italienischer, vor allem venezianischer Musik mitgebracht: ein abwechslungsreiches und durchdachtes, großteils attacca ineinander übergehendes Baroquepourrie, von dessen Komponisten (secondo la fama) dieser vergiftet wurde und jener einen Kastraten erdolchte.
Begleitet, und mehr als das, wird Jaroussky vom französischen Ensemble Artaserse, das nach einem altpersischen Opernstar benannt ist und so spielt, wie Jaroussky singt: wunderbar klangschön, ausgewogen und geschmeidig, weniger affektschroff als andere Originalklinger.
In einigen Zwischenspielen setzt Jaroussky sich nach hinten und hört konzentriert zu, wie die Instrumentalisten ihre Qualität unter Beweis stellen, etwa die beiden Geiger Alessandro Tampieri und Raul Orellana in Giovanni Legrenzis Sonata à due „La Spilimberga“. Den Gipfel erreichen diese solistischen Leistungen in der Violinsonate „La Cesta“, die der (mutmaßliche) Kastratenkiller Giovanni Mealli im stylus phantasticus dem (angeblich) vergifteten Antonio Cesti widmete, ein Kaleidoskop von originellen, ergreifenden und bizarren Figuren und Spieltechniken, die der erste Geiger Alessandro Tampieri virtuos und mit kuriosem Fingerhüpfvibrato präsentiert.
Wenn die pausierende Perkussionistin Michèle Claude diese, wie alle Darbietungen ihrer Kollegen, in höchster Anspannung verfolgt, fällt einem erst auf, wie manche Musiker großer Symphonieorchester ihre Ruhephasen verschnarchen, um erst zum Einsatz wieder aufzuwachen. Keine entfremdete Arbeitsteilung bei diesem Ensemble! In Agostino Steffanis Gelosia, lasciami in pace brilliert Claude dann vor dem Da Capo mit einem fulminanten Schlagzeugsolo; und steigert es nochmals, inklusive Wangeploppen und Fußschellenband, als das Ensemble die komplette Gelosia da capo gibt, als dritte Zugabe.
Im Konzertgänger erwacht dabei wieder mal der Wunsch, dass in Konzerten öfter unbekannte Stücke zwei- oder dreimal gespielt würden, es ist immer ein Gewinn für Herz und Kopf. Gerne hätte man auch Steffanis andere Stücke da capo gehört: etwa den herzzerreißenden Schmachtfetzen Dal mio petto oder Sorge Anteo, das mit mysteriös pfeifenden Winden beginnt. Oder Luigis Rossis M’uccidete begl’occhi – wenn diese Augen von so kristalliner Schönheit sind wie Jarousskys Gesang, dürfte ihr Anblick tatsächlich kaum zu überleben sein: überirdisch Jarousskys unendlicher Atem, betörend seine verhauchenden Schlusstöne.
Das ergreifende Lamento ist Jarousskys Domäne, auch die zwielichtigen, schillernden Welten, etwa Claudio Monteverdis sinistres Wiegenlied Adagiati Poppea – diesen bösen Evergreen würde man mit ebensolcher Freude noch drei-, vier-, fünfmal hören wollen wie Luigi Rossis ergreifende Orfeo-Klage Lasciate averno. Jarousskys gequälter Blick gleitet dabei zu den Rängen hinauf, und als er die Augen des Konzertgängers trifft, möchte dieser hinabrufen: Halt ein, Orfeo, halt ein, hier hast du sie zurück, deine Euridice… doch nein, halte nicht ein, sing weiter!
Natürlich besteht so ein Baroquepourrie aus lauter Gefühlsquickies: in einem Moment frohlockend, im nächsten tränenüberströmt. Aber am Ende sieht man nur lächelnde und lachende Menschen das Konzerthaus verlassen.
Che peccato, dass Jarousskys Residenz nun zu Ende ist. Che gioia, wer im Herbst seine Nachfolge als Artist in Residence antritt.