10.11.2016 – Schwermutfarbig: Emerson Quartett spielt Barber, Turnage, Tschaikowsky

Samuel Barbers Adagio wurde nicht nur bei diversen Beerdigungen von Präsidenten, Filmstars, Hochadligen und Nobelpreisträgern gespielt, sondern auch und erst recht nach dem 11. September 2001. Nach dem erneuten 11. September, den Amerika sich soeben selbst zugefügt hat, hört man es natürlich mit anderen Ohren. Bedrückter denn je.

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Samuel Barber, Foto: Carl Van Vechten, 1944

Barbers originale Streichquartettfassung ist entschieden bekömmlicher als die berühmt-berüchtigte aufgeblasene Fassung for strings, für die Toscanini sich im Jenseits verantworten muss. Das New Yorker Emerson String Quartet trägt das traurige Stück im Kammermusiksaal in lehrbuchmäßiger Intonation und Intensität vor und in so perfektem Zusammenspiel, dass man sich höchstens fragen könnte, ob das Abreißen vor der Generalpause noch intensiver wirken würde, wenn es nicht ganz so perfekt gelänge. Aber man kann niemanden zum Schludern zwingen. Außerdem wäre es schön, das Stück einmal in seinem Zusammenhang zu hören, als Mittelsatz des Streichquartetts opus 11 (1935/36).

Hier steht es allerdings im Zusammenhang eines gut durchdachten Novemberprogramms mit Turnage und Tschaikowsky in der Farbe der Schwermut  (C.F.D. Schubart 1784, Programmhefttext Ingeborg Allihn). Also mit viel Lamento und Trauermarsch. Die vier Herren des Emerson String Quartets tragen, fast etwas kurios, schwarze Krawatten wie bei einem Begräbnis.

emerson_by_johnson_1846-cropDas seit 1976 existierende Quartett ist selbstverständlich nicht nach Lake & Palmer benannt, sondern nach Ralph Waldo Emerson, der im tiefblauen Massachusetts den amerikanischen Transzendentalismus begründete. (Wäre schön, wenn es hierzulande ein Schelling- oder Schopenhauer-Quartett gäbe.) Es hat so eine gewisse akademische Ostküsten-Anmutung, und es klingt auch akademisch, aber im positiven Sinn: durchdacht und durchgearbeitet bis in den letzten Winkel. Noch zwischen den kürzesten Sätzen werden die Instrumente nachgestimmt. Das Ergebnis klingt dabei höchst schwungvoll. Was sicher auch daher rührt, dass Emerson wie das Artemis-Quartett im Stehen spielt, in einem sehr engen Kreis.

Und dass die Geiger sich als Primarius abwechseln. In der deutschen Erstaufführung von Mark Anthony Turnages neuem Werk Shroud (Leichentuch) übernimmt Eugene Drucker die erste Geige, die bei Barber noch Philip Setzer spielte. Eindringliche Klagefiguren nach dem Motto Früher war mehr Lamento bestimmen die beiden längeren Rahmensätze, zwischen denen drei fassliche Intermezzi stehen. Im mittleren Satz in Scherzo-Form stellt man in der Wiederholung des A-Teils fest, dass das, was man in A für einen Ausrutscher der Bratsche (Lawrence Dutton) hielt, so sein muss. Nach dem ersten Höreindruck ein Werk in wohlvertrauter Tonsprache, vielleicht etwas erwartbar, aber doch sehr ansprechend in seinem handwerklichen Niveau, seiner Rhythmik und Dialogizität (nimm das, Fachsprache!) sowie dem spürbar persönlichen Anliegen.

Jede Menge Seufzer und insistierend fahle Tonrepetitionen auch in Peter Tschaikowskys 3. Streichquartett op. 30 in es-Moll, der Tonart der schwärzesten Schwermut (nochmal Schubart). Das Emerson Quartett, erneut mit Drucker als Primarius, spielt in schmerzlich vollkommener Tonschönheit. In kaum zu ertragender Intensität, mit dumpfem Verdämmern à la Pathétique und himmelwärtigem Entfleuchen endet der dritte Satz Andante funebre e doloroso ma con moto – aber leider nicht das ganze Werk, denn es folgt ein brutalstmöglich frohgemutes Dur-Finale. Wenn man Barbers Adagio gern einmal im Zusammenhang hören würde, dann Tschaikowsky lieber aus dem Zusammenhang gerissen, nämlich ohne die elende ad-astera-Apotheose.

Aber die Zugabe macht ja alles wieder gut, das Assai lento, cantante e tranquillo aus Beethovens Streichquartett op. 135, nun wieder mit Setzer als erster Geige: einer von den vielen späten Beethoven-Streichquartettsätzen, die zweifellos der schönste Streichquartettsatz aller Zeiten sind. So eindringlich gespielt, dass der Konzertgänger am Ende befindet, dass das Emerson String Quartet eins der vielen Streichquartette ist, die das beste Streichquartett der Welt sind.

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