Die Tagundnachtgleiche ist, wie jedermann weiß, besonders günstig für Zeitreisen. Wenn man denn die richtigen Zauberformeln beherrscht, wie das bei den Künstlern der Aequinox-Musiktage in Neuruppin vom 17. bis zum 19. März fast ausnahmslos der Fall ist. Das Programm des Festivals, das der umtriebige Wolfgang Katschner und seine lautten compagney Berlin mit vielfältiger Unterstützung seit acht Jahren stemmen, führt vom Jahr 2017 aus in eine lutherische Messe anno 1517, in die bedrohliche Klangpracht der italienischen Gegenreformation, schlägt einen irritierenden Bogen über 300 Jahre zwischen süddeutscher Barock- und argentinischer Tango-Mystik und macht einen nicht unschlüpfrigen Hausbesuch bei William Shakespeare.
Dies alles an reizvollen Veranstaltungsorten: vom obersten Stockwerk eines alten Kornspeichers mit handgesägter Bühne und viel improvisiertem Charme über eine akustisch phänomenale Siechenhauskapelle bis zu einer aufgelassenen Dorfkirche, die zur Kultur- und Begegnungsstätte umgewidmet wurde. Erlebt man dort, wahrlich am Ende der Welt, ein Konzert in heimeliger Atmosphäre mit Kaffee, Kuchen und Wein, graut einem kaum mehr vor der Frage, was eigentlich in Zukunft aus all den unbesuchten Kirchengebäuden in (Ost-)Deutschlands Dörfern werden soll.
Nur der Transport zwischen den verstreuten Spielstätten erweist sich als hakelig, wenn man nicht mit dem eigenen Auto anreist. In den spontanen Fahrgemeinschaften, die sich im Lauf des Tages bilden, trifft der Konzertgänger ein älteres Ehepaar, das morgens eine Stunde lang zur Neumühle Alt-Ruppin gelaufen ist – nicht über sonnige Felder und Wiesen, sondern eine Stunde im Nieselregen an der Bundesstraße entlang. Ließe sich, in Ermangelung eines geografischen Reisezaubers, ein Shuttle Service organisieren, wäre das Gold wert.
Eisheilige Deutsche Messe und Telemann im Schweinsgalopp
Die Jubilare Luther und Telemann stehen im Mittelpunkt der beiden (scheinbaren) Hauptveranstaltungen, die Freitag und Samstag Abend in der blauen Stunde beginnen, auf der die Zeit aufhebenden Schwelle zwischen Tag und Nacht. Eine Deutsche Messe versucht, so authentisch wie möglich den Klang eines Gottesdienstes zu Luthers Zeit nacherleben zu lassen – minus Predigt, sonst säße man drei Stunden in der Kirche. Und zum Glück auch ohne authentische Zahnschmerzen, Rheumabeschwerden, Lebenserwartung. Authentisch nach 16. Jahrhundert fühlt sich hingegen die Eiseskälte in der Klosterkirche St. Trinitatis an. Das sind die Momente, in denen der deutsche Großstädter weiß, warum er Jack Wolfskin trägt.
Der warme Sound der historischen Instrumente, auf denen dick eingemummelte Musiker der lautten compagney spielen (Respekt), hilft ebenso übers Frösteln hinweg wie der genaue, wohlartikulierte Gesang des Vocalconsort Berlin und die glasklaren Knabenstimmen des Staats- und Domchores Berlin. Und das Staunen über die reformatorische Musikwundertüte, in der nicht nur Katholisches (Josquin Desprez) vorkommt, sondern auch Lateinisches: Höchst kurios ist Johann Walters Beati immaculati, eine Motette anlässlich der Einweihung des ersten protestantischen Sakralbaus überhaupt, der Schlosskirche Torgau. Ein kunstvoller vierstimmiger Kanon, von Katschner abwechslungsreich arrangiert, entfaltet sich über der (nur für heutige Hörer?) komischen Endloswiederholung einer Quinte, in der der Bass Luther und Melanchthon hochleben lässt.
Auch Heinrich Schütz‘ Litania SWV 458 kann durchaus Heiterkeit hervorrufen, wie ja schon der Umgang des Volksmunds mit dem Begriff Litanei belegt. Die Fürbitte auf einem, je nach Textbedürfnis, beliebig oft wiederholbaren Ton hat musikalisch etwas Bizarres; aber der Chor singt so differenziert und ausgestaltet, dass man der Litanei ihr Nichtendenwollen kaum verargt. Spektakulär wirkt Ludwig Senfls Geläut zu Speyer, das das Programm eröffnet und beschließt: Man meint fast, in diesem Grundton-Rausch minimalistische patterns zu hören, Steve Reich etwa, und fühlt sich im Knaben-Ding-Dong zum Schluss ganz und gar unpassend an Mahler erinnert.
Sicher könnte all diese Musik in ihrer kunstvollen Polyphonie und didaktischen Frömmigkeit staubtrocken klingen. Dass sie es nicht tut, verdankt sich den abwechslungsreichen Arrangements, originellen Instrumentierungen und nicht zuletzt der überbordenden Spiellust aller Musiker Ein lehrreiches und dabei sehr unterhaltsames Konzert, mit dem die lautten compagney auf Tournee geht.
Bei Festivals bewegt man sich durch die gastgebende Stadt oft wie durch eine potemkinsche Kulisse. Da ist es schön, dass das Wandelkonzert „Telemann im Kaleidoskop“ Stadt und Bürgerschaft einbezieht – auch wenn man sich eher im Schweinsgalopp bewegt als zu wandeln. Nach einer Einstimmung durch das bemerkenswert gute Barockensemble der Musikschule Ostprignitz-Ruppin werden die Hörer gruppenweise an zwölf Veranstaltungsorte gebracht: Da ist Telemanns Trauergesang für einen Kanarienvogel in der Fontane-Buchhandlung zu hören, die noble Stille des Clavichord in einem Blumenladen, Saxophonvariationen im Stadtmuseum, eine Schauspielmusik zu Don Quixote samt Papiertheater in einer Montessori-Grundschule. Telemann-Häppchen zwar, aber aufgrund der Qualität der kurzen Darbietungen doch kein musikalisches Fastfood.
Gegenreformation auf dem Dorfe und Shakespeare im Kornspeicher…
Eindrucksvoller noch als die beiden Hauptveranstaltungen sind die kleineren Veranstaltungen diesseits und jenseits der blauen Stunde. Ausgerechnet in der märkischen Dorfkirche von Netzeband blasen die Italiener vom Ensemble Concerto Romano zur musikalischen Gegenreformation am Samstagnachmittag: Ad arma, fideles! (Zu den Waffen, Gläubige!)
Die wüsten Drohungen mit Schwert und Höllenflammen und auch die tränenreichen Krokodilslamenti, mit denen die schwankenden Gläubigen vom Abfall von Rom abgehalten werden sollten, wecken zwar beim Konzertgänger protestantische Abwehrreflexe. Aber die Musik des römischen Frühbarock, dem sich das vom äußerst sympathischen Alessandro Quarta gegründete Ensemble widmet, klingt leider hinreißend. Und neben beängstigenden katholischen Höllenpornos (Turbabuntur impii, verwirrt werden die Unfrommen) gibt es Schmeicheleien von einladender Frömmigkeit, die die drei bärtigen, sehr friedfertig wirkenden Sänger betörend schön singen: etwa den Ohrwurm Nell’apparir del sempiterno Sole von Soto de Langa (1534-1619) oder ein volkstümliches römisches Eiapopeia (fa la ninna fa la nanna), das die himmlischen Engel den allzu grob singenden Hirten beibringen. Da begleitet dann die schmelzvolle Geige statt der drohenden Posaune. Und wenn Cello, Kontrabass und Gitarre tiefentspannt Giovanni Kapsbergers Canario und Capona zupfen, ist eh alles, alles gut.
Das ist es auch auf der in jeder Hinsicht unbetulichen Shakespeare-Matinee Was ihr wollt!, bei der die lautten compagney die Sopranistin Susanne Ellen Kirchesch in englischer Musik des späten 16. und 17. Jahrhunderts begleitet. Auf natürlichste Weise kunstvoll und sehr anmutig singt Kirschech, barfüßig im weißen Leinenkleid, melancholische Lieder vom Leben zum Tode (Robert Jones‘ Life is a poet’s fable), die lebenslüstern und liebesdürstig machen: And is it night? Are we alone? Sehr sinnig folgt da ein grandios derber musikalischer Peniswitz wie John Eccles‘ My man John had a thing. Ebenfalls sehr sinnig hoch oben im schönen Kornspeicher von Alt-Ruppin, das Ganze.
Auch hier bezaubernd, wie Spiellust und abwechslungsreiche Instrumentierung (inkl. gestrichenen Beckens, gepusteter Bassflöte, Maultrommel, Vogelpfeife, Ladenklingel) alte Noten zum Singen und Swingen bringt. Und der Sprecher Wolfgang Maria Bauer guckt zwar aus der Wäsche, als hätte er die letzten drei Nächte durchgemacht, aber liest Shakespeares Sonette ohne abtörnendes Wasserglas und so spontan heraus, als käme ihm die erste Zeile stets gerade eben erst in den Sinn.
… und ein böhmisch-salzburgisch-argentinisches Gipfeltreffen
Und dann gibt es die Momente, in denen die Musik sich, und mit ihr den Hörer, völlig aus Raum und Zeit enthebt. Das geschieht im Nachtkonzert Misterio, wo die Schweizer Geigerin Julia Schröder und ihre Mitmusiker Mara Miribung (Cello), Gerd Amelung (Cembalo) und Wolfgang Katschner (Laute) in der intimen Siechenhauskapelle Heinrich Ignaz Franz Bibers göttliche Rosenkranz-Sonaten mit Tangos von Astor Piazzola koppeln. Das ist nicht immer unproblematisch; wenn etwa Piazzolas La Muerte del Angél auf Bibers Kreuzigung noch eins draufsattelt, ist das des Erschütternden viel zu viel. Dem Ton des Cembalos fehlt der sehnende Nachklang, dessen der Tango bedarf. Auch die Unterbrechungen durch das Klatschen stören, und die Moderationen, in denen Schröder sich gelegentlich verheddert, sind nicht der Weisheit letzter Schluss.
Aber wenn sie geigt: unfassbar, wie souverän sie Bibers halsbrecherische Exaltationen meistert. Wie eindringlich sie sich himmelwärts sehnt. Die Mitmusiker, allen voran die italienische (oder vermutlich ladinische) Cellistin Miribung, stehen ihr an Können und Intensität nicht nach. Und wie sich Rosenkranz und Tango gegenseitig befruchten, haut einen vom Stuhl: weil der Rosenkranz das Sehnen des Tangos transzendiert und der Tango das Sehnen des Rosenkranz glühend verkörperlicht. Oder genauer: weil die Kombination offenbart, wie transzendent das Sehnen in Piazzolas Tangos und wie körperlich das Sehnen in Bibers Sonaten immer schon ist. Ein Konzert, das den Atem stocken lässt.
Die Aequinox-Musiktage gehen am Sonntag mit zwei weiteren Konzerten zu Ende.
(Die Reise zum Festival erfolgte mit Unterstützung des Fördervereins Siechenhauskapelle e.V.)