Wiegemarschtanzend

Pablo Heras-Casado und das RSB spielen Debussy, de Falla, Bartók

Drei auf je eigene Weise tänzerischen Musiken stellt der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin kurzentschlossen die Berceuse héroïque voran, die Claude Debussy 1914 nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges komponierte: antrisches Wiegenlied, großes Crescendo und Generalpause, dann Trauermarsch. Ein eigenartiges Werk mit paradoxem Titel, aber der aktuellen Situation angemessen als Ausdruck eines gewissen Ratlosigkeit, des gleichzeitigen Drangs zum Sprechen und zum Verstummen. Und eine Ergänzung zu Vladimir Jurowskis Aufführung der ukrainischen Nationalhymne vor zehn Tagen. Dazu passt, dass Heras-Casado nicht viele Worte sagt wie Jurowski (sehr kluge, menschliche Worte), sondern nur: „Wir spielen das im Gedenken an die Ukraine.“ Beide Arten des Umgangs – die introvertierte wie die demonstrative – haben ihre Berechtigung.

Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune erklingt danach ohne Schleierschimmer oder fin de siècle-Gaze. Das Orchester (die Flöte von Silke Uhlig voran) befleißigt sich eines federnden, tänzerischen Schritts. Die bedrohlichen und die lustschwellenden Passagen sind von hoher Plastizität, der Streicherklang fein und klar. In Manuel de Fallas Ballettmusik El amor brujo sorgt Heras-Casado mit großem Einsatz und unermüdlichem Nachdruck für köstliche Schärfe und kerzengerade Haltung, ohne dass das Orchester eine gewisse Angestrengtheit jederzeit ablegte. Doch es lodert, in manchen Momenten ist da nahezu Sacre-Wucht. Eine gewisse Diskrepanz entsteht zum Flamenco-Gesang der charismatischen, aber auch leicht nervösen Marina Heredia, deren Stimme von der Mikrofonverstärkung ummäntelt ist, zudem ungünstig von Deckenlautsprechern herabkommt (wofür die Sängerin nichts kann). Alles Lampenfieber aber ist verflogen bei der Zugabe sin cappella, einem unbegleiteten alten Flamenco-Lied, bei dem Heredia über Tempi und alle anderen Parameter ihres Vortrags vollkommen frei verfügen kann. Und wie sie das nutzt und den Saal in wenigen Minuten vollkommen in ihren Bann zieht! Da öffnet die Sängerinpersönlichkeit sich schlagartig zu voller Größe.

Giuoco delle coppie

Beeindruckend straff schließlich Béla Bartóks Konzert für Orchester, in dem auch die Blechbläsergruppe ihren Glanz zeigen kann, im kurz und bündigen Abschluss des ersten Satzes, im Choral des zweiten, im prächtigen Finale. Die Holzpärchen hoppeln famos im Giuoco delle coppie, zuerst die lustigen Fagotte. Heras-Casado gehört bei diesem herrlichen Satz zur schnellen Fraktion, was der Nummer das komisch Gespreizte nimmt und dafür feurigen Witz gibt, sogar eine leichte Tex-Avery-haftigkeit.

Dass perfekte Orchesterorganisation kein Selbstzweck ist, beweist sich in der zentralen Elegia des Werks, dem langsamen Nachtstück in der Mitte: ergreifende, teils bestürzende Musik-Erfahrung. Das ist dann auch im Finale so, diesem heftigen Überschwang aus Trotz im Angesicht des Abgrunds. Todbesiegender Jubel eines Todgeweihten. Was zwischen Elegia und Finale das berühmte Intermezzo interrotto angeht, fehlt hier das Lapidar-Trostlose, das eine Romanfigur von Thomas Pynchen einmal aus dem Stück heraushörte. Es ist eher freundliche Bizarrerie, eine dolle, aber etwas harmlose Zirkuseinlage, nur eben auf Kosten des Sarkastischen (was wenigstens meinem Verständnis dieses Satzes zuwiderläuft).

Aber das sind Nachfragen an hohes Niveau, sozusagen Luxus-Zweifel. Heras-Casado, von dem man eigentlich nie enttäuscht wird, dirigiert das RSB zum ersten, aber hoffentlich nicht zum letzten Mal. Von schöner Kollegialität zeugt es übrigens, dass eine gewichtige Persönlichkeit der Berliner Philharmoniker sich das RSB-Konzert anhört (es soll ja Orchestermusiker geben, die niemals in Konzerte anderer Orchester gehen).

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