Ukrainisch-umarmend

rsb, Jurowski, Alban Gerhardt spielen Werbyzkyj, Rubinstein, Smirnow und Tschaikowsky

Bei Vladimir Jurowski wird aus einem klaren politischen Statement gleich eine musikalische Weiterbohrung: Denn auf die ukrainische Nationalhymne, mit der nach spontaner Programmänderung das Konzert in der Philharmonie beginnt, spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin noch ein weiteres Werk ihres Komponisten Mychajlo Werbyzkyj, die gut gearbeitete Sinfonische Ouvertüre D-Dur, schmissig wie ein Stück von Suppé. Vor allem aber ergeben sich atemberaubende, in der Mitte geradezu verstörende Bezüge zum planmäßigen Rest des Programms, auf dem drei höchst unterschiedliche Werke russischer Komponisten stehen.

Von einer Tschaikowsky-Cancellung kann also – auch Jurowski, geboren 1972 in Moskau, verwahrt sich in einer kurzen Rede gegen diesen absurden Vorwurf in russischen Medien und peinlicherweise auch in der „Welt“ – nicht die Rede sein, weil dessen hochpatriotischer Slawischer Marsch vom Programmbeginn gestrichen wurde (und ein andermal, in anderem Kontext, gespielt werden wird). In der Tat erhebt sich das Publikum spontan zu den schmetternden Klängen von Werbyzkyis ukrainischer Hymne, es werden auch blau-gelbe Fahnen entrollt. Aber etwelche anti-russische Aggressivität liegt hier ebenso wenig wie in der Luft wie am Sonntagmittag bei der großen Solidaritätsdemonstration für das überfallene Land im Tiergarten. Zur Hölle allein mit Putin, und in den Himmel mit Tschaikowsky, dessen Fünfte in einer packenden Aufführung Ende und Krone des Programms bildet (eine Tschaikowsky-Sinfonie vom Programm zu streichen, das wäre in der Tat pervers). Ebenso groß ist die Neugier auf das gänzlich unbekannte russische Repertoire, das es zwischen Werbyzkyjs zu Recht hier und heute gespielter Musik und Tschaikowskys großem Werk zu entdecken gibt.

Alban Gerhardt wirft sich als Solist mit leidenschaftlichem, kompetentem, fürsorglichem Einsatz in Anton Rubinsteins 2. Cello-Konzert d-Moll von 1875. Der einflussreiche Anton Rubinstein ist jemand, dessen Namen man häufig liest und dessen Musik man kaum je hört. Sein Konzert (v)ergeht sich nicht in doitsch-thematischer Arbeitswut, sondern fließt stets hörenswert voran. Das Orchester tritt weitgehend in den Dienst des Solisten, einen wahrhaft fleißigen Duracell-Cellisten mitunter, dessen Spiel aber nichts Mechanisches hat. Inbrünstig klingt Gerhardt, gerade im dritten Satz schmeißt er sich auch an die Grenzen der Intonation, mit eminentem Witz, mit anarchischer Kunstfertigkeit, gut gelaunt und sehr kommunikativ. Im Andante begegnen sich eingangs Klarinetten und Fagotte, dass es kurz Tschaikowsky-Farbe hat, ehe eine lieblich aufwärtssehnende, dann wogende Melodie sich entfaltet. Man spürt die größte Sympathie des Cellisten für das unbekannte Werk, und das Orchester geht voll mit.

Dennoch flüchtet der Cellist im folgenden Werk am Ende abrupt vor dem Orchester aus dem Saal! Dmitri Smirnows Concerto piccolo für Violoncello und Orchester wurde 2007 komponiert, aber noch nie aufgeführt. Smirnow starb 2020 an Covid19, die rsb-Residenz seiner Frau, der Komponistin Jelena Firssowa, ermöglicht die Uraufführung des eindringlichen Werks. Es trägt den Untertitel „Geschichte Russlands in vier Hymnen“; und seine Aufführung in Russland wäre eine Straftat, aufgrund Verhohnepipelung der aktuellen russischen Hymne, der alten Sowjethymne mit neuem Text, wiedereingeführt von Präsident P. Aber was heißt Verhohnepipelung? Das Werk ist ja eine tiefernste Betrachtung in schrägem Gewand. Das Solo-Cello saust im rimsky-korsakowschen Hummelflug über und unter den wechselnden Nationalhymnen, durch die Unwetter der Geschichte, zieht sich selbst ins Tiefentremolo. Abgründe und groteske Kontraste kennzeichnen das Werk, ein krasses Programm, das zu einer Art Gegennarrativ zu schwelender nationalistischer Vulgärhistorie zu werden scheint: an die versuchte Tötung oder wenigstens Bannung des Ungeheuers der Geschichte grenzend.

Mit solch ungeheuerlichem Vorlauf gewinnt Tschaikowskys 5. Sinfonie e-Moll ebenso ungeheuerliche weitere Dimensionen, weit über die persönliche Tragik und das verzweifelte Triumphwollen ihres Schöpfers hinaus. Alles scheint nun aufs Äußerste geschärft: das Unglück und das Bizarre, das Fatale, mechanisches Kreisen, japsende Einwürfe der Flöte, das Entmutigte, Versinken in schwarzen Tiefen, Brüche. Und auch das Lärmende, das falsch Sieghafte, Verblendete im Finale; während doch die erbarmungslosen Einschläge des Katastrophalen im Andante cantabile unhintergehbare schreckliche Wahrheit dieses Werks sind. Ohne Schmalzpressung berührt dieser langsame Satz, hummelig sausen die Flitzestreicher in der folgenden Valse; und die ganze Sinfonie hindurch leuchten alle Orchestergruppen und Stimmen, bestens gestaffelt auch in heftigen Ausbrüchen. Das verfemt Tschaikowsky nun wahrlich nicht, sondern, im Gegenteil: umarmt ihn und ehrt ihn. Das alles ist – gerade im gesamten Aufbau dieses vermutlich unvergesslichen Konzerts – musikalisch aufregend und menschlich bewegend.

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