Nicht nur 50 Jahre 100 Jahre Einsamkeit heuer, sondern auch 100 Jahre Zerrissenheit: Unter diesen etwas kryptischen Titel stellt das ensemble unitedberlin sein Konzert zu Ehren des Komponisten Isang Yun oder auch Yun I-sang (1917-1995). In der durch Krieg und Entchristlichung entkernten, aber gerade in ihrer Kahlheit spirituell wirkenden Elisabethkirche mit nackter Apsis.
Oft von Isang Yun gelesen, aber noch nie Musik von ihm gehört. Und nie recht gewusst, ob der bloß eine (West-)Berliner Lokalgröße war oder ein bedeutender Komponist.
Jetzt also das Flötenkonzert von 1977, mit dem Solisten Martin Glück und 15 oder 16 Orchestermusikern, geleitet von Shao-Chia Lü. Ein eindrucksvolles Werk, das irritierend viele Klangräume beglückend verbindet: Die dodekafonische Kompositionstechnik mag man, je nach Standpunkt, avanciert oder vermufft finden. Aber wie’s bei der Reihentechnik so ist, man hört ohnehin nichts davon. Dafür hinreißende Klangmischungen, einen vorantreibenden Kleine-Terz-Bass, dezente „Exotismen“ (fürs eurozentrische Ohr!). Das Stück zeichnet den vanitashaften nächtlichen Balztanz einer Tempelnovizin um eine Buddha-Statue nach, sehr theatralisch und in höchster Zuspitzung auch schmerzhaft für Ohr und Seele. Man fühlt, leidet, begehrt heiß, zittert und zagt mit Glücks Flöten. Durchaus eine symphonische Dichtung und zugleich ein Solokonzert, das jedes philharmonische Podium zieren würde.
Klingt nach „bedeutender Komponist“.
Und ist die Krone eines schönen, klug durchdachten Programms: direkt vor dem Flötenkonzert Unsuk Chins Fantaisie mécanique (1994/97). Zwei Bläser (Trompete und Posaune), zwei farbenreiche Percussionisten, ein Klavier. Wie diese drei Sphären teils blockhaft gegeneinander stehen, teils sich chamäleonhaft einander anähneln und ineinander fließen, das hat Klassikerformat. Nur die Freude an gewissen aufschreckenden Klingellinien weist das Werk als eine Schöpfung der Vor-Handy-Ära aus; Klänge, die ihre Unschuld verloren haben.
Im ersten Teil des Programms gab es, nach einer meditativen Einleitung von Toshio Hosokawa In Memory of Isang Yun (1996), die aktuellen Werke zweier vielversprechender Komponistinnen:
Procession von Myung-Sun Lee geht viel weiter zurück als 100 Jahre, bis in die musikalische Urzeit, in der aller Klang aus dem Schlag entsteht. Bei den Bläsern, die zuerst aus dem Schlagzeug hervorgehen, wirkt diese Entwicklung organischer als bei den hier vielleicht doch fehlbesetzten Streichern. Auf jeden Fall ein in seiner Motorik unmittelbar mitreißendes Stück.
Sperriger, aber ebenso interessant wirkt Eiko Tsukamotos Peripherie, die die klassische Konzertsituation thematisiert: die bizarre Sortierung, die das Ohr zwischen erwünschten und unerwünschten Geräuschen vornimmt. (Wer je das Verbrechen begangen hat, ein Konzert heimlich mitzuschneiden, weiß seit dem Hören der Aufnahme, wie viel Schall man im Konzert regelmäßig ausblendet.) Tsukamoto dezentralisiert die Musik, lässt sie aus tiefster Bassklarinettentiefe in hohe Streicherhöhen steigen, mischt sehr heterogene Frequenzen, Klangfarben, Rhythmen, lässt auch Horn, Tuba und Viola im Rücken des Hörers erklingen. So sabotiert sie die Entstehung eines geschlossenen Klangbildes und öffnet den Sound für jenes Rascheln, Scharren und Schmatzen, das auch ein konzentriertes Publikum von sich gibt. Wie ein Gemälde, das sich in den es ausstellenden Raum hinein fortsetzt.
Auch die Komponistin bleibt im Applaus lieber an der Peripherie, dabei hätte sie sich das Zentrum der Aufmerksamkeit verdient.
Große Bühne für Isang Yun am 22.6. im Kammermusiksaal (mit Emmanuel Pahud) und beim Musikfest im September. Mehr zu Isang Yun im Tagesspiegel. Nächstes Konzert des ensemble unitedberlin dann im und über den Oktober.